Starkes Gift
sie, daß es nur unnötige Neugier erregen würde, einen an ein Mitglied selbst des niederen englischen Adels adressierten Brief offen vorzuzeigen. Gewiß würde dies ihr Ansehen steigern, aber im Augenblick hatte Miss Climpson nicht unbedingt den Wunsch, im Rampenlicht zu stehen. Sie schlich sich leise zur Tür hinaus und wandte ihre Schritte der Stadtmitte zu.
Am Tag zuvor hatte sie mehrere Teestuben ausgemacht – eine vornehme, zwei aufstrebende, die sich heftig Konkurrenz machten, eine veraltete und im Abstieg begriffene, ein Lyons-Restaurant und vier zweifelhafte und im großen und ganzen unbedeutende Teestuben, die nebenbei Süßwaren verkauften. Es war jetzt halb elf. Wenn sie sich ein wenig anstrengte, konnte sie in den nächsten anderthalb Stunden den Teil der Einwohnerschaft von Windle in Augenschein nehmen, der sich einen Morgenkaffee zu gönnen pflegte.
Sie gab den Brief auf und stritt eine Weile mit sich, wo sie anfangen sollte. Alles in allem neigte sie dazu, sich das Lyons-Restaurant für den nächsten Tag aufzuheben. Es war eine gewöhnliche Imbißstube, ohne Musik und Sprudelquelle. Dort verkehrten wohl hauptsächlich Angestellte und Hausfrauen. Von den anderen vier Teestuben war vielleicht das Central am vielversprechendsten. Es war ziemlich groß, hell und freundlich, und aus den Türen drangen ein paar Fetzen Musik. Im allgemeinen liebten Krankenschwestern das Große, Helle und Melodische. Aber das Central hatte einen Nachteil. Wer von Mrs. Wrayburns Haus kam, mußte, um hinzukommen, erst an allen anderen vorbei. Das machte diese Teestube ungeeignet als Beobachtungspunkt. Für diesen Zweck lag wohl das Gemütliche Eck am günstigsten, denn von dort konnte man die Bushaltestelle sehen. Also beschloß Miss Climpson, hier mit ihren Beobachtungen anzufangen. Sie fand einen Fensterplatz, bestellte eine Tasse Kaffee und etwas Gebäck und richtete sich aufs Warten ein.
Nach einer halben Stunde, in der sich keine Frau in Schwesterntracht hatte blicken lassen, bestellte sie noch eine Tasse Kaffee und etwas Blätterteiggebäck. Eine Anzahl von Leuten – meist Frauen – kam herein, aber keine von ihnen kam auch nur im entferntesten als Miss Booth in Frage. Um halb zwölf fand Miss Climpson, daß ihr weiterer Verbleib auffallen und die Geschäftsführung ärgern könnte. Sie bezahlte und ging.
Im Central waren mehr Gäste als im Gemütlichen Eck, und es war besser eingerichtet, zum Beispiel mit bequemen Korbstühlen anstelle harter Eichenholzbänke, und statt eines trägen Halbedelfräuleins in steifem Leinen bediente hier eine flinke Kellnerin. Miss Climpson bestellte noch eine Tasse Kaffee und ein Brötchen mit Butter. Ein Fensterplatz war nicht mehr frei, aber sie fand einen Tisch in der Nähe der Musik, von wo aus sie den ganzen Raum überblicken konnte. Ein wehender dunkelblauer Schleier an der Tür ließ ihr Herz einmal schneller schlagen, aber die Trägerin entpuppte sich als lebenslustige junge Frau mit zwei Kindern nebst Kinderwagen, und wieder sank ihre Hoffnung. Um zwölf Uhr mußte Miss Climpson sich eingestehen, daß ihr Besuch im Central vergebens gewesen war.
Ihr letzter Besuch galt dem Oriental – einem für die Spionage denkbar ungeeigneten Etablissement. Es bestand aus drei sehr kleinen Räumen mit unregelmäßigem Grundriß, schwach erhellt von Vierzigwattbirnen hinter japanischen Lampions und weiter verdunkelt durch Perlenvorhänge und Fenstergardinen. Neugierig wie sie war, machte Miss Climpson zuerst die Runde durch sämtliche Ecken und Nischen und schreckte einige Pärchen auf, bevor sie an einen Tisch bei der Tür zurückkehrte und ihre vierte Tasse Kaffee trank. Es wurde halb eins, aber keine Miss Booth kam. »Jetzt kann sie nicht mehr kommen«, dachte Miss Climpson; »sicher muß sie jetzt nach Hause und ihrer Patientin das Mittagessen geben.«
Sie kehrte zur Schönen Aussicht zurück, brachte aber für ihre Portion Hammelkeule keinen rechten Appetit auf.
Um halb vier machte sie sich von neuem auf den Weg, um sich zur Abwechslung in eine Teeorgie zu stürzen. Diesmal verschmähte sie auch das Lyons und die vierte Teestube nicht und begann am anderen Ende des Städtchens, um sich langsam bis zur Bushaltestelle vorzuarbeiten. Gerade saß sie im Gemütlichen Eck an einem Fensterplatz und kämpfte mit ihrem fünften Nachmittagstee, als eine auf dem Trottoir dahineilende Gestalt ihre Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Der Winterabend war schon hereingebrochen, und die
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