Starkes Gift
Straßenbeleuchtung war nicht sehr hell, aber sie erkannte deutlich eine ältere, stämmig gebaute Krankenschwester mit schwarzem Schleier und grauem Umhang, die auf dem diesseitigen Trottoir entlanghastete! Indem sie den Hals verrenkte, sah sie die Frau einen schnellen Spurt einlegen, an der Ecke in den Bus steigen und in Richtung Fischerklause davonfahren.
»Wie ärgerlich!« sagte Miss Climpson, als das Gefährt sich entfernte. »Ich muß sie verfehlt haben. Oder sie war vielleicht irgendwo eingeladen. Jedenfalls fürchte ich, daß dieser Tag verschenkt war. Und ich bin bis oben voll mit Tee!«
Es war ein Glück, daß der Himmel Miss Climpson mit einer guten Verdauung gesegnet hatte, denn der darauffolgende Morgen erlebte eine Wiederholung des Schauspiels. Es konnte natürlich sein, daß Miss Booth nur zwei- oder dreimal in der Woche ausging, oder überhaupt nur nachmittags, aber Miss Climpson wollte kein Risiko eingehen. Jedenfalls hatte sie jetzt die Gewißheit, daß sie die Bushaltestelle im Auge behalten mußte. Diesmal bezog sie ihren Posten im Gemütlichen Eck um elf Uhr und wartete bis zwölf. Nichts geschah, und sie kehrte in die Pension zurück.
Nachmittags um drei war sie wieder da. Mittlerweile kannte die Bedienung sie schon und verriet ein leicht belustigtes, nachsichtiges Interesse an ihrem Kommen und Gehen. Miss Climpson erklärte, sie sehe so gern den vorübergehenden Leuten zu, und äußerte ein paar lobende Worte über das Café und seine Bedienung. Besonders angetan zeigte sie sich von einem originellen alten Wirtshaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite und meinte, sie trage sich mit dem Gedanken, es zu malen.
»O ja«, sagte die Kellnerin, »deswegen kommen hier viele Künstler her.«
Das gab Miss Climpson eine großartige Idee ein, und am nächsten Morgen brachte sie Bleistift und Skizzenblock mit.
Nun wollte es eine niederträchtige Laune des Schicksals, daß sie kaum ihren Kaffee bestellt, den Skizzenblock aufgeschlagen und angefangen hatte, das Dach zu skizzieren, als ein Bus vorfuhr und die beleibte Krankenschwester in ihrer grauschwarzen Tracht ausstieg. Sie kam aber nicht ins Gemütliche Eck, sondern ging so forsch auf der anderen Straßenseite weiter, daß der Schleier ihr nachwehte wie eine Fahne.
Miss Climpson stieß einen ärgerlichen Laut aus, der die Kellnerin aufmerksam machte.
»So etwas Dummes!« sagte sie. »Nun habe ich doch meinen Radiergummi vergessen. Ich muß noch einmal weggehen und mir einen neuen kaufen.«
Sie ließ den Skizzenblock auf den Tisch fallen und stürzte zur Tür.
»Ich decke Ihnen den Kaffee zu, Miss«, sagte die Kellnerin zuvorkommend. »Unten beim Bären ist das beste Schreibwarengeschäft; es gehört Mr. Bulteel.«
»Danke, vielen Dank«, sagte Miss Climpson und war schon draußen.
In der Ferne wehte immer noch der schwarze Schleier. Miss Climpson hetzte atemlos hinterher, blieb jedoch auf dem diesseitigen Trottoir. Der Schleier verschwand in einer Apotheke. Ein Stückchen dahinter überquerte Miss Climpson die Straße und blieb vor einem Schaufenster mit Babywäsche stehen. Der Schleier kam wieder heraus, wippte ein paarmal unschlüssig, drehte sich dann um, ging an Miss Climpson vorbei und trat in ein Schuhgeschäft.
»Wenn sie nur Schnürsenkel braucht, geht es schnell«, dachte Miss Climpson, »aber wenn sie anprobiert, kann es den ganzen Vormittag dauern.« Sie ging langsam an der Tür vorbei. Es war Glück, daß gerade ein Kunde herauskam, so daß Miss Climpson an ihm vorbeisehen konnte. Der schwarze Schleier verschwand soeben hinten im Laden. Kühn stieß sie die Tür auf. Vorn im Laden befand sich ein Verkaufstisch für allerlei Krimskrams, und über der Tür, durch die der Schleier verschwunden war, hing ein Schild mit der Aufschrift »Damenabteilung«.
Während Miss Climpson ein Paar braune Schnürsenkel kaufte, führte sie eine kurze Debatte mit sich selbst. Sollte sie ihrem Opfer folgen und die Gelegenheit beim Schopf packen? Schuhe anzuprobieren ist meist eine langwierige Sache. Der Kunde ist für längere Zeit an einen Stuhl gefesselt, während die Verkäuferin auf Trittleitern herumsteigt und ganze Stapel von Schuhkartons herunterholt. Es ist auch verhältnismäßig leicht, mit jemandem ein Gespräch anzuknüpfen, der gerade Schuhe anprobiert. Aber einen Haken hat die Sache. Um seine Gegenwart in der Schuhabteilung plausibel zu machen, muß man selbst Schuhe anprobieren. Und was geschieht? Die Verkäuferin setzt einen
Weitere Kostenlose Bücher