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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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zunächst außer Gefecht, indem sie einem den rechten Schuh vom Fuß reißt und damit verschwindet. Angenommen, das Opfer findet inzwischen etwas Passendes, bezahlt und geht? Soll man mit einem Schuh hinterherhinken? Soll man sich verdächtig machen, indem man schnell seine eigene Fußbekleidung wieder anzieht und mit fliegenden Schuhbändern und einer hastig hingemurmelten Entschuldigung wegen einer vergessenen Verabredung davoneilt? Schlimmer noch, wenn man sich gerade in einem amphibischen Zustand befindet, indem man einen eigenen und einen dem Laden gehörenden Schuh anhat! Welchen Eindruck würde man hinterlassen, wenn man sich plötzlich mit einer Ware aus dem Staub machte, auf die man kein Anrecht hat? Würde in diesem Falle der Verfolger nicht schnell zum Verfolgten?
    Nachdem Miss Climpson sich dieses Problem durch den Kopf hatte gehen lassen, bezahlte sie die Schnürsenkel und ging. Sie hatte schon in einer Teestube die Zeche geprellt, und je eine Missetat an einem Vormittag war das äußerste, womit sie durchzukommen hoffen konnte.
    Ein männlicher Detektiv, besonders wenn er sich als Arbeiter, Laufjunge oder Telegrammbote verkleidet, ist zum Beschatten in einer viel günstigeren Position. Er kann herumlungern, ohne daß es jemandem auffällt. Eine Detektivin aber darf nicht herumlungern. Andererseits kann sie vor Schaufenstern stehen, so lange sie Lust hat. Miss Climpsons Wahl fiel auf ein Hutgeschäft. Zuerst betrachtete sie ausgiebig sämtliche Hüte in beiden Fenstern, ging dann zurück und besah sich etwas eingehender ein besonders elegantes Modell mit Augenschleier und zwei merkwürdigen Auswüchsen, die aussahen wie Kaninchenohren. Genau in dem Augenblick, als ein aufmerksamer Beobachter geglaubt hätte, sie habe sich endlich entschlossen, hineinzugehen und nach dem Preis zu fragen, kam die Krankenschwester aus dem Schuhgeschäft. Miss Climpson sagte den Kaninchenohren mit bedauerndem Kopfschütteln Lebewohl, sprang schnell noch einmal zu dem anderen Fenster hinüber, schaute, schwankte, zögerte – und riß sich endgültig los.
    Die Krankenschwester war jetzt etwa dreißig Schritt vor ihr und schritt kräftig aus, etwa wie ein Pferd, das seinen Stall riecht. Sie überquerte wieder die Straße, sah in ein Schaufenster voll bunter Wollsachen, überlegte es sich anders, ging weiter und trat durch die Tür des Oriental.
    Miss Climpson befand sich nun in der Situation eines Schmetterlingsjägers, der nach langer Jagd den Schmetterling unterm Netz hat. Für den Augenblick ist das Tier sicher aufgehoben, und der Jäger kann Luft schnappen. Das Problem ist nun, wie er die Beute unbeschädigt herausbekommt.
    Es ist natürlich leicht, jemandem in eine Teestube zu folgen und sich an seinen Tisch zu setzen, falls dort noch Platz ist. Aber vielleicht ist man nicht willkommen. Es wird womöglich als unverschämt empfunden, sich einfach an jemandes Tisch zu setzen, wenn noch andere Tische frei sind. Besser wappnet man sich mit einem Vorwand, indem man zum Beispiel ein verlorenes Taschentuch zurückgibt oder auf eine offene Handtasche hinweist. Wenn die betreffende Person einem einen solchen Vorwand nicht liefert, ist es das nächstbeste, sich selbst einen zu fabrizieren.
    Das Schreibwarengeschäft war nur ein paar Türen weiter. Miss Climpson ging hinein und kaufte einen Radiergummi, drei Ansichtskarten, einen weichen Bleistift und einen Kalender und wartete, bis alles zu einem Päckchen zusammengepackt war. Dann ging sie langsam über die Straße zurück und betrat das Oriental.
    Im ersten Raum fand sie zwei Frauen und einen kleinen Jungen in einer Nische, einen milchtrinkenden alten Herrn in einer zweiten, und in der dritten ein paar Kaffee und Kuchen verzehrende junge Mädchen.
    »Entschuldigen Sie«, sagte Miss Climpson zu den beiden Frauen, »aber gehört dieses Päckchen vielleicht Ihnen? Ich habe es draußen vor der Tür gefunden.«
    Die ältere Frau, die offenbar einkaufen gewesen war, zählte eilig ihre diversen Päckchen und befühlte sie einzeln, um sich ihren Inhalt ins Gedächtnis zurückzurufen.
    »Ich glaube nicht, daß es mir gehört, aber ganz sicher weiß ich es nicht. Mal sehen. Das sind die Eier, das der Speck und – was ist das, Gertie? Ist das die Mausefalle? Nein, Moment, das ist Hustensaft, ja – und das sind Tante Ediths Schuheinlagen, das ist die Schuhcreme – nein, Heringspaste, das hier ist die Schuhcreme – nanu, ich glaube, ich habe tatsächlich die Mausefalle irgendwo verloren

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