Starkes Gift
einem Wort nicht klar«, sagte Miss Murchison. »Es sieht aus wie ›Einverständnis‹, könnte aber auch ›Eingeständnis‹ heißen – das ist doch wohl ein Unterschied nicht?«
»Kann man wohl sagen«, antwortete Mr. Pond trocken.
»Dann sollte ich es lieber nicht darauf ankommen lassen«, sagte Miss Murchison. »Das muß nämlich heute morgen noch raus. Ich gehe besser mal fragen.«
Mr. Pond ließ – nicht zum erstenmal – ein verächtliches Schnauben ob der Oberflächlichkeit der Stenotypistin ertönen.
Miss Murchison durchquerte mit raschen Schritten das Büro und öffnete die Tür, ohne anzuklopfen – eine Zwanglosigkeit, die Mr. Pond erneut ein Stöhnen entlockte.
Mr. Urquhart stand mit dem Rücken zur Tür und schien sich am Kaminsims zu schaffen zu machen. Mit einem ärgerlichen Ausruf fuhr er herum.
»Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, Miss Murchison, daß Sie bitte anklopfen möchten, bevor Sie eintreten.«
»Entschuldigen Sie bitte; ich hab’s vergessen.«
»Daß mir das nicht noch einmal vorkommt. Was gibt es denn?«
Er kam nicht an seinen Schreibtisch zurück, sondern blieb an den Kaminsims gelehnt stehen. Sein gestriegelter Kopf vor dem matten Holz der Täfelung war leicht zurückgeworfen, als ob er – fand Miss Murchison – jemanden beschützen oder abwehren wollte.
»Ich kann hier an einer Stelle mein Stenogramm von Ihrem Brief an Tewke Peabody nicht entziffern«, sagte Miss Murchison, »und da hielt ich es für besser, zu Ihnen zu kommen und zu fragen.«
»Ich wünsche«, sagte Mr. Urquhart, indem er ein strenges Auge auf sie richtete, »daß Sie demnächst von vornherein deutlich mitschreiben. Wenn ich Ihnen zu schnell diktiere, sagen Sie es. Das würde uns letzten Endes viel Ärger ersparen – meinen Sie nicht?«
Miss Murchison erinnerte sich unwillkürlich an die kleine Regelsammlung, die Lord Peter Wimsey – halb im Scherz, halb im Ernst – einmal als Leitfaden für die Mitarbeiterinnen des »Katzenhauses« zusammengestellt hatte. Besonders an Regel Nummer sieben, die lautete: »Mißtraue jedem, der dir fest in die Augen blickt – er will verhindern, daß du etwas anderes siehst. Suche danach.«
Sie wandte unter dem Blick ihres Arbeitgebers die Augen ab.
»Es tut mir sehr leid, Mr. Urquhart. Es soll nicht wieder vorkommen«, murmelte sie. Da war so ein merkwürdiger dunkler Strich am Rand der Täfelung, unmittelbar hinter dem Kopf des Anwalts, als ob dort das Paneel nicht ganz in den Rahmen paßte. So etwas war ihr noch nie aufgefallen.
»Nun, also, was wollten Sie fragen?«
Miss Murchison stellte ihre Frage, bekam ihre Antwort und zog sich zurück. Im Gehen warf sie schnell einen Blick über den Schreibtisch. Das Testament lag nicht da.
Sie ging an ihre Schreibmaschine zurück und schrieb die Briefe fertig. Als sie zur Unterschrift wieder hineinging, nahm sie die Gelegenheit wahr, sich noch einmal die Täfelung anzusehen. Kein dunkler Strich mehr zu sehen.
Miss Murchison verließ das Büro Punkt halb fünf. Sie hatte das Gefühl, daß es unklug wäre, sich in der näheren Umgebung aufzuhalten. Sie entfernte sich mit schnellen Schritten über den Hand Court, wandte sich nach rechts den Holborn hinunter, tauchte wiederum nach rechts durch die Featherstone-Gebäude, machte einen Umweg durch die Red Lion Street und tauchte am Red Lion Square wieder auf. Innerhalb von fünf Minuten befand sie sich auf ihrem alten Weg um den Platz herum und die Princeton Street hinauf. Bald sah sie aus der Ferne, wie Mr. Pond aus dem Büro kam, dünn, steif und vornübergebeugt, und die Bedford Row hinunterging in Richtung Chancery Lane Station. Nicht lange, und Mr. Urquhart folgte. Er blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen und schaute nach rechts und links, dann überquerte er die Straße und kam direkt auf sie zu. Im ersten Augenblick dachte sie, er habe sie gesehen, und verschwand schnell hinter einem Lieferwagen, der am Straßenrand stand. In dessen Schutz lief sie zur Straßenecke, wo sich ein Metzgerladen befindet, und blickte interessiert in ein Schaufenster voller Lamm- und Rinderbraten. Mr. Urquhart kam näher. Seine Schritte wurden lauter – hielten inne. Miss Murchison klebte ihren Blick an einer Portion Fleisch fest, deren Preisschild ein Gewicht von viereinhalb Pfund angab und auf drei Shilling vier Pence lautete. Eine Stimme sagte:
»Guten Abend, Miss Murchison. Suchen Sie sich einen Braten fürs Abendessen aus?«
»Oh! Guten Abend, Mr. Urquhart. Ja
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