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Starkes Gift

Starkes Gift

Titel: Starkes Gift Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dorothy L. Sayers
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faßte Miss Climpson nach dem geriffelten Knopf und begann ihn zu drehen.
    Beim ersten Versuch hatte sie keinen Erfolg, einfach deshalb, weil aus den Zahlen in dem Büchlein nicht hervorging, wie herum der Knopf zuerst zu drehen sei. Beim zweiten Versuch aber rastete der Sperrhebel bei der siebten Zahl mit einem befriedigenden Klicken aus.
    Miss Booth packte den Griff, und die schwere Tür bewegte sich und ging auf.
    Im Safe befand sich ein Stapel Papiere. Obendrauf lag augenfällig ein länglicher, versiegelter Umschlag. Miss Climpson riß ihn an sich: »Testament der Rosanna Wrayburn. 5. JULI 1920.«
    »Na, ist das nicht wunderbar?« rief Miss Booth. Alles in allem mußte Miss Climpson ihr recht geben.

19. Kapitel
    Miss Climpson blieb über Nacht im Gästeschlafzimmer.
    »Das beste wäre«, sagte sie, »wenn Sie ein Briefchen an Mr. Urquhart schrieben, ihm das mit der Séance erklärten und ihm sagten, Sie hätten es für das sicherste gehalten, ihm das Testament zu schicken.«
    »Er wird sehr erstaunt sein«, sagte Miss Booth. »Ich wüßte gern, was er dazu sagen wird. Juristen glauben im allgemeinen nicht an Geistererscheinungen. Und er wird es merkwürdig finden, daß wir es geschafft haben, den Safe zu öffnen.«
    »Nun, aber der Geist hat uns ja unmittelbar zur Zahlenkombination geführt, nicht? Er kann doch nicht von Ihnen erwarten, daß Sie eine solche Botschaft einfach ignorieren! Daß sie im guten Glauben handeln, sieht er ja daran, daß Sie ihm das Testament direkt zuschicken. Und meinen Sie nicht, es wäre ganz gut, wenn Sie ihn bäten, herzukommen, um den übrigen Inhalt des Safes zu kontrollieren und die Zahlenkombination zu ändern?«
    »Wäre es nicht noch besser, ich behielte das Testament hier und bäte ihn, es abzuholen?«
    »Vielleicht braucht er es aber dringend.«
    »Warum hat er es dann noch nicht geholt?«
    Miss Climpson stellte mit einer gewissen Beunruhigung fest, daß Miss Booth, wenn es einmal nicht um Geisterbotschaften ging, erste Ansätze zur Entwicklung eigener Urteilsfähigkeit erkennen ließ.
    »Vielleicht weiß er selbst noch gar nicht, daß er es braucht. Vielleicht haben die Geister eine dringende Notwendigkeit vorausgesehen, die erst morgen eintreten wird.«
    »Ach ja, das ist sehr gut möglich. Wenn die Menschen sich doch nur dieser wunderbaren Führung überließen, die ihnen da geboten wird, wie vieles könnte da vorhergesehen werden, so daß man Vorsorge treffen könnte! Ich glaube jedenfalls, daß Sie recht haben. Wir werden einen Umschlag besorgen, der groß genug ist; dann schreibe ich einen Brief dazu, und den schicken wir morgen früh mit der ersten Post weg.«
    »Am besten per Einschreiben«, riet Miss Climpson.
    »Wenn Sie den Brief mir anvertrauen, bringe ich ihn gleich morgen früh zur Post.«
    »Das würden Sie tun? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie erleichtert ich wäre. So, aber Sie sind jetzt bestimmt genau so müde wie ich, und darum setze ich jetzt einen Kessel Wasser für die Wärmflaschen auf, und dann gehen wir zu Bett. Machen Sie es sich doch solange bei mir im Wohnzimmer bequem! Ich muß nur noch Ihr Bett beziehen. Wie bitte? Aber nicht doch, das mache ich im Handumdrehen. Bitte bemühen Sie sich nicht. Ich bin es gewöhnt, Betten zu beziehen.«
    »Dann passe ich solange auf den Wasserkessel auf«, sagte Miss Climpson. »Ich muß mich einfach irgendwo nützlich machen.«
    »Na gut. Es dauert nicht lange. Das Wasser kommt schon ziemlich heiß aus dem Boiler in der Küche.«
    Alleingelassen in der Küche, wo der Wasserkessel blubbernd und singend dem Siedepunkt entgegenstrebte, verlor Miss Climpson keine Zeit mehr. Sie schlich auf Zehenspitzen hinaus, blieb an der Treppe stehen und spitzte die Ohren, bis die Schritte der Pflegerin sich entfernt hatten. Dann huschte sie ins Wohnzimmer, nahm den versiegelten Umschlag mit dem Testament und einen langen dünnen Brieföffner, den sie sich schon als geeignete Waffe vorgemerkt hatte, und eilte damit in die Küche zurück.
    Es ist erstaunlich, wie lange ein Wasserkessel, der schon kurz vorm Sieden zu stehen scheint, manchmal braucht, bis der ersehnte Dampfstrahl aus der Tülle schießt. Trügerische kleine Wölkchen und hoffnungsvolle Pausen im Gesang des Kessels spannen den Wartenden auf eine nicht enden wollende Folter. Miss Climpson kam es so vor, als wenn man in der Zeit zwanzig Betten hätte beziehen können, bis der Kessel an diesem Abend endlich kochte. Aber auch ein unter Beobachtung stehender

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