Starkes Gift
Mrs. Wrayburns Geld geworden war, das Norman Urquhart aufgrund seiner Vollmacht für sie verwaltete, und warum die Sache mit dem Testament so wichtig war. In ihrem Kopf drehte es sich. Sie nahm ein Blatt Papier vom Schreibtisch und stenografierte rasch die näheren Angaben zu den einzelnen Transaktionen auf, von denen diese Dokumente zeugten.
Jemand stieß gegen die Tür.
»Sind Sie da drin, Miss?«
»Einen kleinen Augenblick noch, Mrs. Hodges. Ich glaube, es muß mir hier irgendwo auf den Boden gefallen sein.«
Sie gab dem Stuhl einen kräftigen Schubs und stieß damit die Tür nachhaltig zu.
Sie mußte sich beeilen. Inzwischen hatte sie sowieso schon genug notiert, um Lord Peter zu überzeugen, daß Mr. Urquharts Angelegenheiten einer näheren Betrachtung wert waren. Sie legte die Papiere in das Geheimfach zurück, genau an die Stelle, von der sie sie genommen hatte. Auch das Testament war darin – es lag für sich allein an einer Seite. Sie warf einen Blick hinein. Und noch etwas war da, ganz hinten in der Höhlung. Sie steckte die Hand tief in das Geheimfach und holte den mysteriösen Gegenstand heraus. Es war ein Päckchen aus weißem Karton, beschriftet mit dem Namen einer ausländischen Apotheke. Die Verschlußklappe war aufgerissen und wieder zugedrückt worden. Sie öffnete das Päckchen und sah, daß sich darin etwa zwei Unzen von einem feinen weißen Pulver befanden.
Nichts ist so sensationsträchtig wie ein Päckchen mit anonymem weißem Pulver nebst einem versteckten Schatz geheimnisvoller Dokumente. Miss Murchison nahm sich einen sauberen Briefumschlag, schüttete eine Prise von dem weißen Pulver darauf, stellte das Päckchen wieder nach hinten in das Geheimfach und verschloß die Tür mit den Dietrichen. Mit zitternden Fingern schob sie das Paneel an seinen Platz, wobei sie gut achtgab, daß es auch fest zu war und von dem verräterischen dunklen Strich nichts zu sehen blieb.
Sie rollte den Stuhl von der Tür fort und rief mit triumphierender Stimme:
»Ich hab’s gefunden, Mrs. Hodges!«
»Na also!« sagte Mrs. Hodges, bereits in der Tür stehend.
»Stellen Sie sich das vor!« sagte Miss Murchison. »Ich wollte heute nachmittag gerade mal meine Muster durchsehen, da klingelte Mr. Urquhart nach mir, und dann muß das Ding an meiner Jacke hängengeblieben und hier abgefallen sein.«
Triumphierend hielt sie ein Stück Seide in die Höhe. Sie hatte es im Laufe des Nachmittags vom Futter ihrer Handtasche abgerissen – ein Beweis, falls dieser noch nötig war – für die Hingabe, mit der sie ihre Arbeit tat, denn es war eine gute Tasche.
»Meine Güte aber auch«, meinte Mrs. Hodges. »Wie gut, daß Sie es wiedergefunden haben, nicht wahr, Miss?«
»Beinahe hätte ich es nicht gefunden«, sagte Miss Murchison. »Da in dieser ganz dunklen Ecke lag es. Na ja, jetzt muß ich aber fliegen, sonst schaffe ich es vor Geschäftsschluß nicht mehr. Gute Nacht, Mrs. Hodges.«
Aber lange bevor die geduldigen Herren Bourne Hollingworth ihre Türen schlossen, läutete Miss Murchison im zweiten Stock von Piccadilly 110 A.
Sie platzte mitten in einen Kriegsrat. Anwesend waren der Ehrenwerte Freddy mit freundlichem Gesicht, Chefinspektor Parker mit sorgenvollem Gesicht, Lord Peter mit schläfrigem Gesicht und Bunter, der, nachdem er sie vorgestellt hatte, eine Position am Rande der Versammlung einnahm und ein korrektes Gesicht machte.
»Bringen Sie uns Neuigkeiten, Miss Murchison? Wenn ja, kommen Sie gerade im richtigen Augenblick, denn die Geier sind versammelt. Mr. Arbuthnot, Chefinspektor Parker, Miss Murchison. Setzen wir uns, und seien wir alle miteinander fröhlich. Haben Sie schon Tee getrunken oder möchten Sie eine Kleinigkeit zu sich nehmen?«
Miss Murchison lehnte dankend jede Stärkung ab.
»Hm!« machte Wimsey. »Patient verweigert Nahrung. Augen schillern fiebrig, Gesicht verrät Ungeduld. Lippen leicht geöffnet, Finger hantieren mit dem Verschluß der Handtasche. Die Symptome lassen auf einen akuten Anfall von Mitteilsamkeit schließen. Sagen Sie uns die grausame Wahrheit, Miss Murchison.«
Miss Murchison ließ sich nicht lange drängen. Sie berichtete von ihrem Abenteuer und hatte das Vergnügen, ihre Zuhörerschaft vom ersten bis zum letzten Wort in Bann zu schlagen. Als sie endlich den Briefumschlag mit dem weißen Pulver zum Vorschein brachte, drückten sich die Gefühle der Anwesenden in anhaltendem Applaus aus, dem auch Bunter sich diskret anschloß.
»Bist du
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