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nämlich lediglich mit ein paar Prellungen und einem Knöchelbruch davongekommen bin. Ich hätte auch tot sein können, so wie ich durch die Luft geflogen und erst viele Meter weiter wieder auf dem Asphalt aufgeknallt bin.
Und – Gott sei Dank! – hatte Gregory ebenfalls Riesenglück! Es geht ihm gut, sagte der Arzt. Obwohl sein verdrehtes Knie wohl wesentlich schmerzhafter ist als mein inzwischen dick eingegipster Knöchel. Der Ärmste! Ansonsten hat er noch einen Schlüsselbeinbruch, was offenbar ein kleiner Knochen oben an der Schulter ist, aber
wenn er den Arm ruhig und in einer Schlinge hält, wird das schnell geheilt sein, meinte der Arzt.
Wie die Schwester mir sagte, liegt Gregory auf der gleichen Station nur wenige Zimmer weiter. Heute durfte ich noch nicht rüberhumpeln, aber morgen früh kann ich gleich zu ihm.
Bis morgen früh ist endlos. Was soll ich nur so lange machen? Hab ja nicht mal was Anständiges zu lesen hier. Ich hätte zu Hause noch einen Riesenordner mit Zeitungsartikeln, die ich mir ausgeschnitten habe, um sie irgendwann mal in Ruhe zu lesen. Jetzt hätte ich dafür in Massen Zeit. Aber nein, alles, was man hier kriegt, sind eine Scheibe Schwarzbrot und eine Scheibe Knäckebrot zum Abendessen (und das um fünf Uhr nachmittags!), zwei alte Ausgaben der Annette und gemalte Topfblumen an den Wänden. Danke. Da kann man ja nur trübsinnig werden.
In diesem Moment kommt die Schwester ins Zimmer. Die Frau neben mir und ich gucken sofort neugierig zu ihr rüber. Komme mir vor wie im Altersheim, wo jede Mahlzeit der aufregende Höhepunkt des Tages ist! Man ist hier echt froh über jede Unterbrechung der Langeweile! Dankbar, wenn die Schwestern bloß die Handtücher wechseln!
»Wir haben bei dir zu Hause bis jetzt leider immer noch niemanden erreichen können«, bedauert die Schwester mit professionellem Schwesternlächeln in meine Richtung, »wir versuchen es aber weiter.«
»Zum Abendessen sind meine Eltern bestimmt da«, versichere ich.
Vorher waren sie ohne Zweifel auch im Haus. Aber Iris saß vermutlich mit Ohrstöpseln in ihrem Arbeitszimmer, tief über ihren Laptop gebeugt, und hörte nichts außer
Meeresrauschen oder Liebesjodlern oder worüber sie auch immer gerade schreibt. Und Cornelius hämmerte sicher unten im Keller im Probenraum von Rainbow wild auf seinem Schlagzeug rum. Der würde nicht mal merken, wenn auch das restliche Haus über ihm zusammenkrachen würde. Was könnte ein kleines, zartes, dauerklingelndes Telefon da schon ausrichten?
Ach, warum kann ich nicht normale Eltern haben wie andere auch?
Na schön, es gibt natürlich auch welche, die haben es noch schlechter getroffen als ich. Der arme Gregory zum Beispiel. Denn eine Mutter, die ihr Kind mit einem monatlichen Vorrat von etwa hundert Ravioli-Dosen fast jeden Abend allein zu Hause sitzen lässt, um als Fernsehmoderatorin von dieser blöden Talkshow Blau nach zehn eifrig an ihrer Karriere zu basteln, die möchte wohl keiner geschenkt haben.
Ach, Gregory! Neulich haben wir mal wieder ein bisschen über seinen Vater gequatscht. Über den, der eben nicht vorhanden ist.
Gregory hat gesagt, dass es schon komisch ist, wenn man seinen Vater nicht nur nicht kennt, sondern noch nicht mal weiß, wer dieser Vater ist oder wo er lebt und auch noch nicht mal ein Bild von ihm gesehen hat. Sibylle Hahn, seine Mutter, behauptet nämlich, sie habe kein Foto von seinem Vater und hätte ihn sehr schnell wieder aus den Augen verloren.
Aus den Augen verloren! Wie kann man den Vater seines Sohnes aus den Augen verlieren! Hat ein Kind kein Recht darauf, zu wissen, wer sein Vater ist?
Gregory sagt, als er klein war, hat er sich immer vorgestellt, dass sein Vater eines Tages einfach bei ihm zu Hause
klingeln und reinmarschieren würde und »Hallo, mein Großer!« sagen würde und dann ruckzuck einen Koffer mit Gregorys Sachen packen und ihn mitnehmen würde. Zack und weg.
Mann!, hab ich gedacht, wie allein muss sich Gregory als kleines Kind gefühlt haben, dass er solche Hoffnungsfantasien hatte! Der arme kleine Kerl!
Gregory hat darauf aber nur gegrinst und gemeint, dass ja zum Glück immer Walter Walbohm von nebenan für ihn da war. Und er hat weitererzählt, dass er sich an den langen Abenden bei Walter zusammen mit ihm immer ausgemalt hat, was sein Vater wohl von Beruf sein könnte, und wo er lebt, und natürlich wohin der Vater mit ihm – Gregory – gehen würde, nachdem er ihn endlich abgeholt hat.
Und natürlich war der
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