Startschuss
schaffst es! Ein kleines Stück noch. Aber das kleine Stück wurde immer länger. Die restlichen Meter dehnten
sich wie ein Gummiband, das Wasser schien sich in einen zähflüssigen, undurchdringlichen Sirup zu verwandeln, der jeden Schwimmzug
zur Qual werden ließ. Ilka hatte das Gefühl, auf der Stelle zu verharren, während sie hilflos wie eine Ertrinkende im Wasser
patschte.
Dann endlich schlug ihre Hand am Beckenrand an. Ilka hielt sich mit beiden Händen fest, schnappte gierig nach Luft, atmete
ein paarmal tief durch. Sie war vollkommen am Ende. Sie wusste nicht, welchen Platz sie gemacht hatte. Die Anzeigetafel blieb
noch schwarz.
»Mann, war das knapp!«, stieß Lennart aus. »Ich glaube, sie ist Vierte geworden.«
»Nee. Dritte«, vermutete Michael. Aber mit bloßem Auge war das tatsächlich nicht zu erkennen gewesen. Glücklicherweise hatte
ein großes High-Tech-Unternehmen die Ausstattung der Schwimmhalle mit elektronischer Zeitmessung übernommen.
Die Anzeigetafel blinkte auf. Ilka war mit einem Wimpernschlag Vorsprung Dritte geworden und damit gerade noch qualifiziert
für den Zwischenlauf.
Jabali pustete aus. »Glück gehabt. Das ist noch mal gut gegangen.«
Linh nickte. »Aber es ist das schlechteste Ergebnis, das Ilka je erzielt hat. Vermutlich hat ihr mein Turnanzug doch nicht
so gut gepasst.«
»Dass das so viel ausmacht«, wunderte sich Jabali.
Linh war aufgestanden und hinunter ans Becken gelaufen, um Ilka zu ihrem Kampfgeist zu beglückwünschen.
Die Grünheimer jubelten sich gegenseitig zu, obwohl ihre Mitschülerin Letzte geworden war. Aber das hatten sie vorher gewusst
und einkalkuliert. Wichtiger war für die Grünheimer, dass Ilka nicht gewonnen hatte. Denn sie wussten, wie sehr Ilkas Rückschlag
die James-Connolly-Schule Punkte kostete, mit denen die Fünf Asse fest gerechnet hatten. Jubelnd zogen sie aus der Halle heraus.
Tomversäumte es nicht, Michael dabei noch eine Grimasse zu schneiden.
»Wir sehen uns gleich beim Weitsprung!«
Michael reagierte gar nicht.
»Wie geht es dir?«, fragte Lennart ihn.
Michael wiegte seinen Kopf hin und her. »Ein bisschen besser.« Ob es ihm aber in einer Stunde gut genug für den Wettkampf
gehen würde, war doch noch sehr fraglich. Hauptsache, die Grünheimer würden sich keine neuen Gemeinheiten ausdenken, um den
Wettkampf zu manipulieren.
Das brachte Michael auf eine Idee. »Kommt mit!«, forderte er Jabali und Lennart auf.
»Wohin?«, fragte Lennart.
»Nun kommt schon!«, wiederholte er nur und rannte los.
Jabali und Lennart schauten sich ratlos an, zuckten mit den Schultern und liefen Michael hinterher. Am Ausgang hatten sie
ihn eingeholt.
Michael zeigte auf die Grünheimer, die sich um Tom gruppierten und gemeinsam zum kleinen Sportstadion zurückgingen.
»Ich will wissen, was die im Schilde führen!«, erklärte Michael. »Und deshalb werde ich ihnen nicht von der Pelle rücken.«
»Keine schlechte Idee«, gab Lennart zu.
»Wir sollten den Mädchen Bescheid sagen«, fand Jabali.
Michael winkte ab. »Keine Zeit.«
Die Grünheimer bogen um die Ecke.
Michael spurtete los. Jabali und Lennart folgten und stoppten, bevor sie ebenfalls um die Ecke bogen. Zuerst vergewisserten
sie sich, dass die Grünheimer sie nicht entdeckt hatten. Aber die schienen nichts gemerkt zu haben. Unbeschwert überquerten
sie die Straße und nahmen direkten Kurs auf das Stadion, wo sie zu den Umkleidekabinen gingen.
»Was wollen die dort?«, fragte sich Michael. Wer seinen Wettkampf unmittelbar vor sich hatte, bewahrte seine wichtigsten Dinge
im Rucksack direkt im Stadionrund auf. Wer nicht dran war, hatte jetzt auch in den Umkleideräumen nichts mehr zu suchen.
»Vielleicht hat einer von ihnen nur etwas vergessen«, konnte sich Lennart vorstellen.
»Ha!«, lachte Michael bitter. »Ich weiß auch, was: die nächste Schweinerei vorzubereiten. Los, die schnappen wir uns!«
Im nächsten Moment eilte er schon über die Straßeund presste sich auf der anderen Seite gegen eine Hauswand, um nicht gesehen zu werden.
»Was hat er vor?« Verwundert drehte sich Jabali zu Lennart um. Er hatte mehr und mehr ein ungutes Gefühl. Sie hätten doch
auf die Mädchen warten sollen. Nun war es allerdings zu spät.
Michael war den Grünheimern schon in die Katakomben gefolgt. Jabali hätte ihn gern noch zurückgehalten. Doch Michael verfolgte
die Grünheimer so verbissen, als hätte er sie soeben bei einem Attentat erwischt.
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