STASIRATTE
eingetrichtert, dass wir im Arbeiter- und Bauernstaat alle gleich waren. Sie war ganz und gar nicht gleich und ich merkte ihr deutlich an, dass sie darauf auch besonders stolz war.
„Ja, ich würde gern nach Thüringen gehen.“ Ich sah sie of-fen an und wartete ab. Sie genoss den Augenblick, bevor sie ihr Herrschaftswissen mit mir teilte, und sagte dann herablassend: „Sie haben eine Zusage bekommen.“
Ja, so war es. Der mündige Bürger hatte sich beworben und die Antwort bekam der Leiter des sozialistischen Kollektivs. Na, wenn schon, ich freute mich, dass es so schnell geklappt hatte. Ich lächelte und wippte ein bisschen mit dem Stuhl, et-was unsicher, was ich nun als Nächstes zu tun hatte.
Sie legte den Kopf leicht schräg und sah mir in die Augen. Dabei wirkte sie mit ihren kühlen hellgrünen Augen etwas bedrohlich wie ein seltsamer Vogel. „Wir haben darüber nachgedacht“, sagte sie, ohne zu erwähnen, wer wir waren, „ob es Sie interessieren würde, in der Kristallbar zu arbeiten.“
Wahnsinn! Ich hätte laut kreischen können, auf einem Bein hüpfen oder ein Rad schlagen. Das gab es doch wohl nicht, ich in die Kristallbar? Wow! Ich musste mich zusammennehmen, die Freude quoll über in mir. Also versuchte ich, so gut es ging, ein neutrales Gesicht zu machen, und fragte: „Wie bitte?“ Wenn ich jetzt gehofft hatte, sie würde nun etwas verbindlicher und entspannter, dann wurde ich enttäuscht. Nichts dergleichen passierte. Sie selbst schien auch gar nicht so überzeugt zu sein von dem Angebot. Sie hatte ja auch „wir haben uns überlegt ...“ gesagt. Ich traute mich natürlich nicht danach zu fragen, wer auf diese Idee gekommen war. Sie ließ sich dann aber noch dazu herab, mir zu versichern, dass man mit meiner Arbeit sehr zufrieden war und einen Weggang bedauern würde. Ich sollte es mir also überlegen.
Ich sagte, dass ich mich kurzfristig entscheiden würde, und verließ ihr Büro. Sie sah auf ihre Akten, als ich ihr zum Abschied dankbar zulächelte.
Draußen auf dem halbdunklen Flur blieb ich erst mal einen Moment lang stehen und sortierte meine Gedanken. Wassollte ich meinem Freund sagen, überlegte ich. Alles wieder abblasen, sollte er vielleicht unter diesen Umständen lieber nach Berlin ziehen? Wenn ja, wohin? In mein enges Gehäuse ginge es wohl nicht, aber hatte er Lust auf das Wohnheim? Fragen über Fragen, die meine erste Euphorie leicht trübten.
Doch eines stand fest: Dieses Angebot würde ich nicht ausschlagen.
Ungeduldig rief ich ihn wenig später an und erzählte ihm von meinen fantastischen Neuigkeiten. Nachdem er die erste Überraschung verarbeitet hatte, sah auch er die Chancen für sich.
Wir waren jung und hatten in diesem Land nur begrenzte Möglichkeiten. Genau wie es für mich so viel besser war, in der Kristallbar zu arbeiten als im Bankettsaal, so konnte auch er sich gut vorstellen, seiner Heimat den Rücken zu kehren und nach Berlin zu gehen. Recht schnell verliefen unsere Planungen also in entgegengesetzter Richtung. Mein Freund hatte während des Parteitags Arbeits- und Einsatzfreude gezeigt, die ihm nun zugutekam. Die Dinge hätten nicht reibungsloser laufen können. Die Zeit verging schnell und es waren nur noch wenige Wochen, bis wir in Berlin zusammen sein würden.
Da überkam mich aus heiterem Himmel ein Gefühl der Angst und Unsicherheit vor dieser gemeinsamen Zukunft. Wir kannten uns ja kaum, und handelten wir nicht viel zu überstürzt, fragte ich mich immer eindringlicher. Ich haderte mit meiner eigenen Entschlussfreudigkeit und stand nun jeden Morgen mit einem gewissen Unwohlsein auf, wenn ich an die Ankunft meines Freundes dachte.
Doch es war zu spät, um das Ganze rückgängig zu machen. Wir hatten beide unsere Verträge unterschrieben.
Eine Woche vor seinem Umzug nach Berlin entschloss ich mich zu einem ehrlichen Brief, in dem ich ihm mein ganzesDilemma so liebevoll wie möglich zu schildern versuchte. Fürs Erste konnte er doch im Wohnheim einziehen und wir könnten unsere Beziehung erst mal ganz frei führen.
Das Resultat war ein Zerwürfnis. Er war furchtbar enttäuscht, setzte jedoch den eingeschlagenen Weg entschlossen fort, freilich ohne mit mir jemals wieder ein Wort zu wechseln.
* * *
Nun war ich also angekommen, plötzlich und unverhofft, an einem exklusiven und lukrativen Arbeitsplatz der Ost-Berliner Gastronomie. Hier gab es angenehme Dienstzeiten, kurze Wege, kleine Lasten, die Klimaanlage ließ uns nicht ins Schwitzen kommen
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