STASIRATTE
wichtig. Er hält mich im Arm, er wird mich nicht zurückweisen, ist jetzt das bestimmende Gefühl in mir, das mich langsam beruhigt und wieder klarer sehen lässt.
Als wir uns voneinander lösen, versuche ich es mit einem vorsichtigen Lächeln. „Du machst Sachen“, sagt Mike, der sich nach mehrjähriger Enthaltsamkeit nun schon die zweite Zigarette anzündet. Sein Blick ist jetzt aufmerksam und forschend. „Erzähl mal der Reihe nach“, bittet er mich.
Ich habe selbst Schwierigkeiten, eine genaue Abfolge der Ereignisse wiederzugeben. Alles hing mit allem zusammen. Das Aufwachsen in einer Welt der Doppelzüngigkeit, meine besondere Arbeitsstelle, die Beziehung zu Paul, das Versprechen von Vorteilen und schließlich die fortwährende Anstrengung, alles zu verdrängen.
Mit der ersten Erleichterung über Mikes Reaktion sprudele ich zusammenhanglos heraus, was mir in den Sinn kommt. Geschichten aus der Vergangenheit, die zu meiner Entscheidung beigetragen haben. Episoden aus der Kristallbar. Ich weine, beruhige mich etwas, rede, trinke, versuche ein vorsichtiges entschuldigendes Lächeln, weine wieder und rede, rede. Mike sitzt mir ernst gegenüber und hört aufmerksam zu. Ab und zu fragt er etwas, hakt nach.
Ich brauche noch etwas zu trinken. Der Barmann mixt mir einen weiteren Cocktail. Ohne hinzusehen, greife ich danach und nehme einen tiefen Schluck. Ich sehe jetzt ins Glas, als stünde dort die Fortsetzung, und sage: „Und dann kam im vorletzten Sommer die erste Karte.“ Mike sieht mich fragend an.
„Von Gerry“, setze ich hinzu.
Mike sieht mich nicht weniger fragend an. Mit hastigen Worten erkläre ich ihm mein Verhältnis zu Gerry.
Mike legt mir seine Hand auf den Arm und sagt: „Jetzt mach mal langsam, was ist mit diesem Gerry und was für eine Karte?“
„Nicht nur eine Karte“, ich sage es wie zu mir selbst und leere mein Glas vollständig.
Meine Erregungskurve steigt nun wieder und während ich von den ständigen Grußkarten und meiner Angst, dass Mike eine solche mal in die Hände fallen könnte, erzähle, überwältigt es mich wieder. Diesmal ist es das wunderbare Gefühl, mich nach so langer Zeit des Schweigens zu erleichtern.
Als der zweite Wolkenbruch vorüber ist, beginnt eine lange Nacht. Ich erzähle.
* * *
„Wir können uns ruhig duzen“, war einer der ersten Sätze aus Hauptmann Gerbers Mund. Wenige Augenblicke zuvor war ich in einem der Zimmer eines Berliner Luxushotels angekommen und hatte auf einem bequemen Sessel gegenüber meinem Führungsoffizier Platz genommen.
Diese unvermittelte Offerte verblüffte mich. Was sollte das jetzt so plötzlich? Nach der distanziert steifen Begrüßung und des Angebots, Platz zu nehmen, fühlte ich mich etwas überrumpelt.
Ich konnte diese Überlegung jetzt aber nicht gebrauchen, denn ich war ohnehin durcheinander und kam mir vor wie in einer Parallelwelt. Das war vielleicht gar nicht ich, die sich zum Mitmachen entschlossen hatte. Das war gar nicht ich, die sich vor wenigen Minuten betont lässig an der Rezeption vorbei zu den Aufzügen bewegt hatte, wohl wissend, dass die Angestellten jedes Recht hatten, mich anzuhalten und nach meinem Zimmerausweis zu fragen. War ich es, die gerade in der Sommerhitze ihren alten Golf in eine Parklücke am Bahnhof Friedrichstraße gelenkt hatte? Die sich verwegen und interessant vorkam in der Erwartung dessen, was sich gleich abspielen würde? War ich diejenige, die die Spannung dieser ungewöhnlichen und ziemlich unerhörten Situation auch noch genoss?
Ich musste es wohl sein, denn ansonsten fühlte ich mich an wie immer. Und diese leise entfernte Stimme, die ganz weit in mir irgendetwas rief, das ich nicht verstand oder nicht verstehen wollte, würde auch noch Ruhe geben und mich weitergehen lassen auf meinem eingeschlagenen Weg.
Der Hauptmann sah mich abwartend an.
Für einen Moment spürte ich wieder diese Unsicherheit. Es war noch Zeit, einfach aufzustehen und ein „Tut mir leid, das ist alles ein Missverständnis“ oder sonst was zu sagen, die Zähne zusammenzubeißen und abzuhauen. Oder ich könnte ganz aufrichtig sein und ihm erzählen, wie ich mit dieser Entscheidung gerungen habe, dass es schlaflose Nächte gegeben hatte, dass mein Partner mir zu- und mein Gewissen mir abgeraten hatten. Einfach so, ganz ehrlich, der war doch nett, der würde das verstehen und dann ...
Dann holte ich tief Luft, sagte: „Ja klar, kein Problem“, und lächelte falsch.
„Also dann: Micha“, hörte ich
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