STASIRATTE
Versorgungslage viel über die allgegenwärtigen Parolen auf Bannern gelästert wird. Mit ihrer Zweideutigkeit punkteten insbesondere: „Aus unserem Betrieb ist noch viel mehr rauszuholen“, „Meine Hand für mein Produkt“ oder „Ich leiste was, ich leiste mir was“. Auch die Losung: „Werktätige Bauern! VerkauftEure Übersollprodukte Eurer KONSUM-Genossenschaft“ hatte ihre Wirkung. Wenn die Eier aus der Überproduktion nämlich dem Konsum verkauft wurden, bekam der Bauer mehr Geld, als der Konsum später den Kunden abnahm. Natürlich stieg die Überproduktion unverhältnismäßig zur sonstigen Produktion. Denn der Bauer konnte rechnen.
Er erfuhr von mir, dass die Leute sich auf die Pilzsaison freuten, da sie wieder etwas Abwechslung auf ihren Speisezettel brachte. Ich schrieb von den Sorgen der Menschen über den bevorstehenden Winter. Würde man mit den Kohlen auskommen, fragten sie sich. Wie oft und wie lange würde der Strom ausfallen? Was wäre mit den Zügen der Deutschen Reichsbahn, wenn viel Schnee fiel. Schließlich saß man nicht gern in den ungeheizten Wartehäuschen auf den Bahnhöfen, auf denen es in ganz seltenen Fällen einen Kiosk gab, der zum Aufwärmen eine heiße Zitrone oder eine wässrige Bockwurst anbot.
Ich schrieb mich in Rage, als würde ich ihm damit die Worte an den Kopf werfen können. Doch Micha sah mir ruhig und ausdruckslos dabei zu. Nichts davon war neu für ihn.
* * *
Eine neue Karte kommt, denn Gerrys Ausdauer ist ungebrochen und verlangt nach einem wirksamen Gegenmittel. Eine Woche später hat Mike als mein Anwalt eine Klageschrift verfasst.
Aufgrund seiner Hartnäckigkeit sind aus Gerry nun ein Beklagter und aus mir eine Klägerin geworden. Mithilfe der juristischen Begriffe scheinen sich die Dinge umzukehren. Jedenfalls bin ich mir sicher, dass Gerry es so sehen wird.
Als ich das fertige Papier in den Händen halte, hoffe ich, dass dies der Schlussstrich unter ein trauriges Kapitel meiner Jugend sein wird. Der Text ist klar und offen, das Gericht kanngenau erkennen, wer Kläger und Beklagter im eigentlichen Sin-ne sind, und würde bald eine Entscheidung fällen, so hoffe ich.
In seinen Ausführungen beantragt Mike, Gerry gegenüber gerichtlich anzuordnen, dass er keine Verbindung mehr zu mir aufnehmen darf und eine Zuwiderhandlung Konsequenzen zur Folge hätte.
Die Klagebegründung beginnt mit der Darstellung Gerrys und meines gemeinsamen Lebensabschnitts in der Kristallbar des Spreehotels und unserer darüber hinausgehenden Freundschaft. Sie spricht über meine IM-Tätigkeit und erläutert dem Gericht, wie es dazu kommen konnte und wie ich die Dinge aus heutiger Sicht sehe. Das Gericht erfährt, welche Gründe mich dazu veranlasst hatten, eine Verpflichtungserklärung zu schreiben.
Es folgen juristische Ausführungen darüber, dass sich mein Anspruch auf Unterlassung aus dem Gewaltschutzgesetz und meinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergibt und dass Gerry es unterlassen muss, Verbindung auch unter Verwendung von Fernkommunikationsmitteln zu mir aufzunehmen. Es ist von einer Rechtssphäre unterhalb der absolut geschützten Rechtsgüter wie Körper, Gesundheit oder Freiheit die Rede. Der Vollständigkeit halber folgt noch der Hinweis, dass mit dem Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen die Stalking-Problematik eine strafrechtliche Konsequenz erhalten hat.
Später, im wieder persönlicher werdenden Abschnitt, wird eingeräumt, dass es das bereits jahrelange Ertragen und unabsehbare Ende des Kartensendens war, was zur Klage geführt hat. Schließlich wird noch geschildert, was die monatliche Erwartung einer Karte mit derart provozierendem Inhalt für eine psychische Belastung für mich ist und wie nachteilig sich ein Bekanntwerden des Inhalts auf mein privates und berufliches Leben auswirken könnte.
Als ich zu Ende gelesen und mich mit dem Inhalt des Schreibens einverstanden erklärt habe, fühle ich wieder diesen Zwiespalt. Zwar habe ich die große Hoffnung, dass mit Einreichung dieser Klage ein Ende der Kartenflut einsetzen wird, dennoch fühle ich mich unbehaglich angesichts der von mir zu Hilfe genommenen Mittel.
Der Schriftsatz endet nüchtern mit der Berechnung des Streitwerts.
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Paul hatte nicht nur Probleme mit den ihn beobachtenden Organen, sondern auch mit seinen seltsamen Freunden, die eigentlich Konkurrenten waren. Von Freundschaft konnte hier nicht die Rede sein. Unter diesen Leuten zählte nicht das Füreinandereinstehen,
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