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STASIRATTE

STASIRATTE

Titel: STASIRATTE Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jana Döhring
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Kartenschreiben Abstand nehmen würde, wäre der Fall auch so erledigt gewesen und die Höhe der Gerichtsgebühren hätten nur einen Bruchteil der Anwaltskosten betragen.
    Es war die Tragik an der Sache, dass wir beide nicht den Mut hatten, wenigstens jetzt miteinander zu reden. Ich war über zwei Jahre lang nicht aus der Deckung gekrochen und hatte gehofft, es ginge von allein vorbei.
    Und Gerry vertraute sich jetzt, wo er Gegenwind spürte, einem Anwalt an, dem er nun schildern musste, wie er mich über eine lange Zeit mit seinen Karten geärgert hatte. Besonders angenehm konnte das auch nicht sein. Für die Juristen hatte der Fall sicher etwas Spannendes, schließlich kommt einem ein solcher Fall nicht jeden Tag auf den Tisch.
    * * *
    Ende der achtziger Jahre hatte es der Sozialismus zunehmend schwerer. Außer der Überwachung und Verschuldung gab es keine expandierenden Bereiche mehr im Land.
    Um etwas Druck aus dem Kessel zu nehmen, traten Reiseerleichterungen in Kraft. Es wurden Gesetze geschaffen, die allerdings nirgendwo veröffentlicht waren, nach denen Anträge gestellt werden konnten, um Verwandte ersten und zweiten und später auch komplizierteren Grades in Westberlin und in der BRD zu besuchen. Anlässe waren Einladungen zu Geburtstagen jenseits der Sechzig, der Tod oder ein Fall der Krankenpflege. In einer Grauzone befanden sich Genehmigungen anlässlich von Hochzeiten oder Taufen.
    Aufgrund dieser Entwicklungen erfreuten sich nach und nach Tausende Deutsche an wiedergefundenen Verwandten. Der Großcousin, von dem man noch nie vorher gehört hatte, lud den armen Ossi großherzig zu seinem 65. Geburtstag ein. Nichten und Neffen kramten nach und fanden passende Onkel und Tanten, die sie um eine Einladung anflehten. Mütter und Väter, vom Rentensystem in der DDR freudig in den Westen entlassen, suchten nun eilig ihren Hausarzt auf, um per Attest die Tochter oder den Sohn so oft wie möglich zur Pflege umsich zu haben. Großes Pech hatten nur diejenigen, die beim besten Willen keine passenden Ahnen auftreiben konnten.
    Es wurde ermittelt und recherchiert. Nie zuvor war Ahnenforschung so wichtig gewesen. Waren Subjekt und Anlass gefunden, hieß es, sich stundenlang bei der Reisestelle in eine Schlange einzureihen und zu warten, bis man seinen Antrag stellen konnte. Aber sowohl Schlange stehen als auch geduldig zu warten war nichts Neues für uns.
    Allerdings durfte nur, wer über achtzehn Jahre alt war, einen Antrag stellen. Ob dieser genehmigt wurde oder nicht, hing ganz entscheidend davon ab, wie wahrscheinlich es war, dass er auch wieder zurückkam. So war bald klar, dass Alleinstehende kaum eine Chance hatten. Verheiratete mussten Frau und Kinder zurücklassen als Garantien für ihre Wiederkehr.
    Eher aus Beharrungsvermögen denn aus Leidenschaft hat-ten Paul und ich inzwischen ohne viel Aufhebens geheiratet. Diese Tatsache und meine real existierende Großmutter versetzten mich in eine glückliche Ausgangsposition für eine Westreise. Sie würde bald ihren achtzigsten Geburtstag feiern und mich selbstverständlich dazu einladen. Nun könnte es also doch passieren, dass ich vor meinem eigenen Renteneintritt den Westen sehen würde. Ich war mächtig aufgeregt und voller Vorfreude.
    Doch ein paar Monate vor Beantragung der Reise beging ich einen Missgriff, der dazu geeignet war, mehr als meine Reisepläne zu zerstören.
    * * *
    Paul ging es gut, die Geschäfte liefen und unbeeindruckt unserer nun amtlichen Bindung lebte er weiterhin in seinem eigenen Kosmos. Es war Frühling und er pendelte von Berlin aufs Land zu seiner Baustelle, von dort zu seinen Marktplätzen und von dort wiederum zu jungen Mädchen, die auf demnahe gelegenen Zeltplatz Urlaub machten oder im Dorfkonsum die Dinge des täglichen Bedarfs verkauften. Ja, er hatte ein schönes Leben und war völlig selbstbestimmt.
    Natürlich kannte ich nicht alle Details seines Schaffens, doch einen bestimmten Teil konnte ich zumindest ahnen. Es war seltsam genug, dass ich von meiner Einzigartigkeit in seinem Leben weiterhin überzeugt war, obwohl Freunde oder Bekannte hin und wieder zweideutige Bemerkungen über ihre Beobachtungen machten, die mich eigentlich hellhörig werden lassen sollten.
    Aber ich wollte auf keinen Fall von Paul lassen, denn ich hing an ihm, wenn auch inzwischen auf eine leicht verbissene Weise. Ich spürte, dass unsere Beziehung zunehmend schwierig wurde, aber ohne ihn ging es eben auch nicht. In diesem Zustand des inneren

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