STASIRATTE
Zwiespalts hatte ich wieder zunehmend Augen für andere Männer. Ganz unterschiedliche Typen fielen mir plötzlich auf und spukten eine Weile in meinem Kopf herum.
In dieser Zeit bemerkte ich immer mehr Dinge, die mich an Paul störten. Es war eine Entwicklung, die mich irritierte, die ich aber nicht aufhalten konnte. Und häufiger fragte ich mich zudem, ob nicht ich es war, die es Paul zu einem großen Teil möglich machte, sein Leben ungestört zu führen. Drückte ich mich nicht gerade seinetwegen mit einem Stasihauptmann in sonderbaren Wohnungen herum? Dankte er es mir überhaupt, dass ich dieses Arrangement eingegangen war? Denn selbst wenn die Treffen mit Micha längst eine gewisse Routine hatten, war mir doch jedes Mal bewusst, in welches Abseits ich mich selbst befördert hatte. Moralisch war ich schon an dem Punkt, wo das Denunzieren mir kaum noch etwas ausmachte. Würde ich diesem Pakt überhaupt jemals wieder entkommen? Hatte ich wirklich etwas davon?
Eine Mischung diffuser Überlegungen und Gefühle machte mich selbstgerecht und allmählich bereit für eine Eskapade.Wenn ich allein in meiner Wohnung aufwachte und wusste, dass ich Paul wieder einige Tage nicht sehen würde, war ich nicht mehr traurig wie sonst, sondern fühlte so etwas wie Trotz. Ich stand in dieser Zeit morgens lange vor dem Spiegel und überlegte, ob ich meine Frisur vielleicht irgendwie verändern sollte. Ich schminkte mich sorgfältiger als früher. Meine Wohnung behandelte ich stiefmütterlich. Es machte mir keinen Spaß mehr, alles so ordentlich und wohnlich wie möglich zu halten für den Moment, an dem Paul mal zu Hause war.
Tag für Tag arbeitete ich in der Kristallbar, sorgfältig zurechtgemacht, und wartete auf irgendetwas. Es war ein schönes Gefühl, so leicht und – auch mal wieder ‒ selbstbestimmt. Ich gefiel mir selbst recht gut, wie ich mit erhobenem Kopf um die Tische ging und die Aufmerksamkeit der Männer auf mich zog. Meine Gäste sah ich mir jetzt aufmerksamer an und genoss selbstverliebt die Wirkung, die ich hinterließ. Es machte mir Spaß und meine Stolziererei wirkte sich sogar auf mein Trinkgeld aus.
Doch irgendwann reichte es nicht mehr, nur schick herumzulaufen und sich selbst klasse zu finden. Etwas brannte in mir und wollte die nächste Stufe zünden. Ich war überzeugt davon, dass mir jetzt ein richtiges Abenteuer zustand.
„Jamal kriegt einen Tee, die anderen kassiere ich jetzt ab.“ Gerry machte Feierabend, denn ich war soeben zum Spätdienst erschienen. Wir standen beieinander und er ging diskret die Tische durch, indem er mir ihre Nummern nannte und was dort noch zu tun war. Nachdem ich den Überblick hatte, orderte ich den Tee und der Barmann ließ kochendes Wasser aus der Maschine über den Teebeutel laufen. Damit machte ich mich auf den Weg zu Jamal, einem unserer arabischen Stammgäste. Seinen Namen hatte Gerry mal aufgeschnappt und wir verwendeten ihn praktischerweise unter uns.
Obwohl ich ihn schon oft hier gesehen hatte, war er mir nie besonders aufgefallen. Fast täglich erschien er für eine Weile, saß fast immer allein, trank Tee oder, wenn es Abend war, einen Whisky. Er wirkte ruhig und besonnen, vielleicht schüchtern. Seine dunklen Haare und Augen passten zu dem olivbraunen Teint. Ich schätzte ich auf Anfang dreißig.
Er hatte durch sein stilles Auftreten etwas Geheimnisvolles. Wie ein Prinz aus Tausendundeiner Nacht war er gekommen, um ein schönes Mädchen auf einem fliegenden Teppich mit in sein Reich zu nehmen. Auf eine unerklärliche Art berührte mich seine Erscheinung mehr und mehr. Und so, wie er mich neuerdings ansah, musste ihm das aufgefallen sein.
Ich begann darauf zu warten, dass er erschien, und wurde unruhig, wenn es nicht passierte. War es dann so weit, hatte ich Herzklopfen und trat nicht mehr unbefangen an seinen Tisch. Mir wurde heiß, wenn ich seine Bestellung entgegennahm, und mir zitterten die Hände, wenn ich den Tee servierte.
Wir unterhielten uns nicht, sahen uns nur an, und ich spürte, wie meine Instinkte funktionierten. Seine Blicke weckten meine Libido, wie ich es bis dahin nicht erfahren hatte. War er wieder gegangen, nicht ohne mich noch einmal mit einem langen Blick aus seinen schimmernden dunkelbraunen Augen anzusehen, fiel ich in ein Loch. Alles um mich herum war mir einerlei, uninteressant und dumpf. Meine Gäste behandelte ich nachlässig, das Lächeln fiel mir schwer. Ich schleppte mich durch die verbleibenden Stunden des Arbeitstages und
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