StatusAngst
Gesellschaften setzten mit spektakulärem Erfolg auf die erste Option, aber indem sie immer neue Wünsche schüren, tragen sie gleichzeitig dazu bei, ihre eindrucksvollen Errungenschaften zu entwerten. Die wirksamste Art, sich reich zu fühlen, muss nicht in vermehrtem Gelderwerb bestehen. Wir könnten uns auch — faktisch wie emotional - von denen distanzieren, die uns ebenbürtig waren, aber reicher geworden sind als wir. Statt zu versuchen, so reich zu werden wie sie, könnten wir uns mit Freunden kleineren Kalibers umgeben, neben denen wir dann um so besser dastehen.
Indem uns die moderne Gesellschaft mit nie da gewesenen Einkommen verwöhnt, macht sie uns scheinbar reicher. Aber bei Lichte besehen könnte es sehr wohl sein, dass sie uns im Endeffekt ärmer macht. Denn indem sie immer neue Erwartungen in uns weckt, bleibt die Kluft zwischen dem, was wir wollen, und dem, was wir bekommen, zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir sein könnten, immer weiter bestehen. Am Ende sind wir möglicherweise viel unglücklicher als die primitiven Wilden, denen laut Rousseau (und hier stößt seine Argumentation an die Grenzen der Glaubwürdigkeit) nicht das Geringste fehlte, wenn sie nur ein Dach überm Kopf hatten und ein paar Äpfel und Nüsse zu essen, wenn sie am Abend »irgendein simples Musikinstrument« spielten oder »mit scharfkantigen Steinen Einbäume aushöhlten«.
Rousseaus Vergleich zwischen dem Glück des Wilden und dem seiner Zeitgenossen fuhrt uns zurück zu William James, der den Erwartungen bei der Bestimmung des Glücksniveaus eine besondere Rolle eingeräumt hat. Wir können mit wenig glücklich sein, wenn wir wenig erwarten. Und wir können mit viel todunglücklich sein, wenn man uns gelehrt hat, alles zu erwarten.
Rousseaus nackte Wilde hatten nur wenige Besitztümer. Aber im Unterschied zu ihren Nachfahren in ihren Tadsch Mahals waren sie wenigstens in der Lage, sich an dem großen Reichtum zu erfreuen, der in geringen Erwartungen besteht.
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Der Preis, den wir dafür zahlen, dass wir so viel mehr erwarten als unsere Vorfahren, ist das Gefühl, dass wir längst nicht sind, was wir sein könnten.
IV. Das Leistungsprinzip
Drei nützliche Legenden über das Scheitern
1
Ein unterer Rang in der sozialen Hierarchie ist vom materiellen Standpunkt aus betrachtet selten erfreulich, aber nicht immer und überall in gleichem Maße bedrückend. Der Einfluss der Armut auf das Selbstwertgefühl hängt wesentlich davon ab, wie die Armut von der sozialen Umgebung bewertet und erklärt wird. Während zweitausend Jahre materieller Fortschritt des Westens ein unbestreitbares Faktum darstellen, sind die Erklärungen dafür, warum jemand arm und was er der Gesellschaft wert sei, in der Neuzeit merklich vernichtender und emotional belastender geworden - eine Entwicklung, die uns die vierte Erklärung für die Angst vor einem niedrigen Sozialstatus liefert.
2
In den Jahrtausenden zwischen dem Bekanntwerden der Lehren Jesu und der zweiten Hälfte des 20.Jahrhunderts bedienten sich die ärmeren Schichten der westlichen Welt dreier Legenden, um sich ihrer Bedeutsamkeit zu vergewissern. Auf ihre Zuhörer dürften diese Legenden eine tröstende, Angst mindernde Wirkung ausgeübt haben.
Erste Legende:
Die Armen sind nicht schuld an ihrem Schicksal; sie sind die nützlichsten Glieder der Gesellschaft.
Die drei mittelalterlichen Stände Klerus, Adel und Bauerntum. In: Image du monde, Frankreich, 13. Jahrhundert
Könnte man einen Westeuropäer des Mittelalters oder der Vormoderne fragen, worauf die Unterteilung in Arm und Reich, in Bauer und Edelmann beruhe, wäre diesem die Frage aller Wahrscheinlichkeit nach ziemlich bizarr erschienen: Die Unterteilung war schlichtweg gottgewollt.
Doch der unerschütterliche Glaube an eine starre Ständeordnung aus Volk, Klerus und Adel wurde ergänzt durch ein erstaunlich starkes Bewusstsein für das wechselseitige Aufeinanderangewiesensein dieser drei Stände und daraus folgend ein ebenso starkes Bewusstsein für den Wert des untersten und ärmsten Stands. Die Theorie der gegenseitigen Abhängigkeit besagte, dass der Stand der Bauern dem Adel und dem Klerus an Wert und Würde in nichts nachstand. Das Los der Bauern mochte ein schweres sein, aber jeder wusste, dass die beiden anderen Stände ohne die Arbeit der Bauern nicht überleben konnten. Johannes von Salisbury war vielleicht nicht
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