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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, 1754)
    Hundert Jahre später gab Karl Marx der Legende neuen Auftrieb und versah, was aus Rousseaus Mund wie ein dumpfer Aufschrei der Empörung geklungen hatte, augenscheinlich mit einer wissenschaftlichen Fundierung. Marx sah im kapitalistischen System das Walten einer ausbeuterischen Dynamik, denn jeder Unternehmer versuchte schließlich, den Arbeitern weniger zu bezahlen, als er am Verkauf der von ihnen produzierten Waren verdiente, um dann die Differenz als »Profit« einzustreichen. Obwohl dieser Profit in der kapitalistischen Presse als Prämie für »Wagnis« und »Unternehmertum« ausgelobt wurde, beharrte Marx darauf, dass die Worte lediglich Euphemismen für Diebstahl seien.
    Er sah in der Bourgeoisie die letzte Verkörperung jener herrschenden Klasse, die seit Anbeginn der Geschichte ihr Unrechtsregime über die Armen aufrecht erhalte. Mochte sich die Bourgeoisie noch so human geben - ihre Skrupellosigkeit verbarg sie lediglich hinter einer zivilisierten Fassade. Im ersten Band des Kapital (1887) sprach Marx mit der Stimme des Arbeiters zur Bourgeoisie: »Du magst ein Musterbürger sein, vielleicht Mitglied des Vereins zur Abschaffung der Tierquälerei und obendrein im Geruch der Heiligkeit stehn, aber dem Ding, das du mir gegenüber repräsentierst, schlägt kein Herz in seiner Brust.«
    Belege genug fanden sich in jeder Gießerei des 19. Jahrhunderts, in Backstuben wie Werfthallen, Hotels wie Kontors. Die Proletarier siechten dahin, starben jung an Krebs und Lungenkrankheiten, die harte Arbeit verhinderte ein menschenwürdiges Familienleben, ließ ihnen keine Zeit, sich ihrer Lage bewusst zu werden, und stürzte sie in Angst und Unsicherheit: »Die kapitalistische Produktion ist überhaupt, bei aller Knauserei, durchaus verschwenderisch mit dem Menschenmaterial.« Also drängte Marx das »Menschenmaterial«, sich gegen seine Herren zu erheben und einzufordern, was ihm von Rechts wegen zustand. Donnernd verkündete das Kommunistische Manifest (1848): »Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!«
    Kurz vor der Veröffentlichung des Manifests war Marx' Mitstreiter Engels nach Manchester gereist und hatte dort aus erster Hand vom Leiden der Proletarier in den neuen Hochburgen der industriellen Revolution berichtet. In seinem Buch Die Lage der arbeitenden Klasse in England (1845) teilt er Marx' Ansichten darüber, warum die Gesellschaft in zwei Klassen gespalten sei: Die Reichen verdankten ihren Wohlstand nicht ihrem Geschick, ihrer Energie, ihrem Fleiß, sondern ihrer List und Niedertracht. Und die Armen lebten nicht aus Faulheit, Trunksucht und Dummheit im Elend, sondern weil sie von ihren Herren verblendet und missbraucht würden. Die Bourgeoisie, wie sie bei Engels beschrieben wird, trieb ihren Eigennutz bis ins äußerste Extrem: »In letzter Instanz ist doch das eigne Interesse und speziell der Gelderwerb das einzig entscheidende Moment. Ich ging einmal mit einem solchen Bourgeois nach Manchester hinein und sprach mit ihm von der schlechten, ungesunden Bauart, von dem scheußlichen Zustande der Arbeiterviertel und erklärte, nie eine so schlecht gebaute Stadt gesehen zu haben. Der Mann hörte das alles ruhig an, und an der Ecke, wo er mich verließ, sagte er: And yet, there is a great deal of money made here - und doch wird hier enorm viel Geld verdient - guten Morgen, Herr! Es ist dem englischen Bourgeois durchaus gleichgültig, ob seine Arbeiter verhungern oder nicht, wenn er nur Geld verdient. Alle Lebensverhältnisse werden nach dem Gelderwerb gemessen, und was kein Geld abwirft, das ist dummes Zeug, unpraktisch, idealistisch.«
    Das Leben in den Slums von Manchester mag nicht sonderlich angenehm gewesen sein, aber zu hören, dass man nur wegen der Skrupellosigkeit der Kapitalisten und der dem System innewohnenden Bösartigkeit in diesem Elend gelandet war (dem der Einzelne wehrlos ausgeliefert war), dürfte den Betroffenen ein nachhaltiges Gefühl der moralischen Überlegenheit vermittelt und die Scham über ihre dürftigen Lebensumstände gemildert haben.
     

 
3
     
    Fast zweitausend Jahre lang trösteten derartige Legenden über den Makel eines geringen Status hinweg. Natürlich gab es noch viele andere, aber diese waren mächtig und am weitesten

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