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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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ein Ausdruck für menschliche Qualitäten sei. Man konnte intelligent, sympathisch, flink, erfinderisch sein und dennoch Fußböden fegen. Man konnte hässlich, degeneriert, sadistisch und schwachsinnig sein und dennoch ein Land regieren.
    Die Behauptung, Rang und Wert eines Menschen hätten nichts miteinander zu tun, ließ sich schlecht untermauern, solange Posten, und das seit Jahrhunderten, nicht aufgrund von Befähigung, sondern von Herkunft und Beziehungen besetzt wurden, so dass die westlichen Staatsgemeinschaften wimmelten von Königen, die nicht zu regieren verstanden, Lords, die ihre Ländereien herunterwirtschafteten, Heerführern ohne strategischen Sinn, Bauern, die klüger waren als ihre Herren, und Dienstmädchen, die mehr wussten als die Damen.
    Erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurden Stimmen laut, die die Erbfolge in Frage stellten. War man wirklich gut beraten, das Geschäft an den Sohn zu vererben, ohne dessen Eignung in Betracht zu ziehen? Waren Thronfolger per se am besten geeignet, ein Land zu regieren? Um den Irrsinn dieses Prinzips zu verdeutlichen, zog man zum Vergleich einen Lebensbereich heran, in dem sich das Leistungsprinzip längst durchgesetzt hatte und selbst von den eifrigsten Verteidigern des Erbrechts akzeptiert wurde: die literarische Welt. Bei der Auswahl eines Buches kam es nur darauf an, ob es gut war, und nicht, ob die Eltern des Autors Literaten oder wohlhabend waren. Ein begabter Vater verhieß nicht automatisch Erfolg, ein ehrloser nicht Scheitern. Warum also sollte diese Bewertungsmethode nicht auf die politische und wirtschaftliche Sphäre übertragen werden?
    »Ich muss im Stillen lächeln, wenn ich daran denke, wie tief die Literatur und alle Wissenschaften sinken würden, wären sie der Erbfolge unterworfen«, schrieb Thomas Paine in seiner Streitschrift Die Rechte des Menschen (1791), »und ich übertrage die gleiche Idee auf die Regierungen. Eine ererbte Gouverneurswürde ist genauso fragwürdig wie eine ererbte Autorenwürde. Ich weiß nicht, ob Homer oder Euklid Söhne hatten, aber ich wage die Behauptung, dass diese nicht in der Lage gewesen wären, das Werk ihrer Väter zu vollenden.«
    Napoleon war der gleichen Meinung und etablierte, kaum an die Macht gelangt, als erster Herrscher der westlichen Welt das System der «carrières ouvertes aux talents« — freie Bahn dem Tüchtigen. »Die meisten meiner Generale habe ich aus der Gosse geholt«, verkündete er stolz auf St. Helena, am Ende seines Lebens. »Wo immer ich auf Begabung stieß, habe ich sie honoriert.« Er rühmte sich dessen zu Recht. Das napoleonische Frankreich erlebte die Abschaffung der feudalen Privilegien und die Einrichtung der Ehrenlegion, eines »Adelstitels«, den sich Franzosen aller sozialen Schichten verdienen konnten. Auch das Bildungssystem wurde reformiert: Die lycées waren nun für alle da, das erste Polytechnikum, das ärmeren Schülern großzügige Unterstützung gewährte, eröffnete 1794. (In den Anfangsjahren waren die Hälfte der Schüler Bauern- und Handwerkersöhne.) Viele hohe Beamte Napoleons kamen aus einfachen Verhältnissen: die Präfekten des Innenministeriums, seine Senatoren und wissenschaftlichen Berater. Nach Napoleons Meinung war der Erbadel »der Fluch der Nation« und setzte sich aus »Idioten und Eseln« zusammen.
    Napoleons Ideen überlebten seinen Sturz und fanden einflussreiche Anhänger in Europa und Amerika. Ralph Waldo Emerson wollte, dass »jeder dort eingesetzt wird, wo er hingehört, und so viel Macht verliehen bekommt, wie er tragen und gebrauchen kann«. Thomas Carlyle zeigte sich empört über die Kinder der Reichen, die ihr Geld verprassten, während den Kindern der Armen eine Ausbildung verwehrt blieb. »Was sollen wir über die adligen Müßiggänger sagen, die Grundeigentümer Englands, deren anerkannte Rolle darin besteht, sich an den Pachterträgen Englands gütlich zu tun und englische Fasane zu erlegen?« Er wetterte gegen diejenigen, die nie einen Finger krumm gemacht hatten, nie jemandem genutzt, sich auf keinem Gebiet je hatten bewähren müssen und ihre Privilegien auf dem Silbertablett serviert bekamen. So stellte er sich den typischen englischen Adligen vor: »in luxuriöser Behausung, von aller Arbeit abgeschirmt, von Mangel, Gefahr und Not verschont. Er sitzt behaglich inmitten seines Komforts und lässt andere für sich arbeiten. Und so einer nennt sich Edel mann? Seine Vorfahren hätten für ihn gearbeitet, sagt er, oder Glück

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