StatusAngst
Irrtümer in den allermeisten Köpfen eine hinlängliche Kenntnis erlangen ... Wir werden dann einsehn, dass, wer auf die Meinung der Menschen einen großen Wert legt, ihnen zu viel Ehre erzeigt.« So Schopenhauer, der führende Vertreter der philosophischen Misanthropie.
In seinen Parerga und Paralipomena (1851) schreibt er, nichts könne uns von dem Wunsch nach der Zuneigung unserer Mitmenschen schneller kurieren als die Erkenntnis ihres wahren Charakters, der, wie er befand, zumeist von animalischer Dumpfheit sei. »Daher also ist, in allen Ländern, die Hauptbeschäftigung aller Gesellschaft das Kartenspiel geworden: Es ist der Maßstab des Wertes derselben und der deklarierte Bankrott an allen Gedanken.« Diese Kartenspieler seien zudem meist falsch und verlogen: »Leider ist, beiläufig gesagt, dieses coquin méprisable [nichtswürdiger Schuft] ein Prädikat, zu dem es in der Welt verteufelt viele Subjekte gibt.« Und wenn diese nicht böse waren, dann waren sie zumindest dumm. Schopenhauer zitiert mit Freuden die Bemerkung Voltaires: » la terre est couverte de gens qui ne méritent pas qu'on leur parle.« (Die Welt ist voller Menschen, die es nicht wert sind, dass man mit ihnen spricht.)
Können wir die Meinungen solcher Menschen wirklich ernst nehmen?, fragt Schopenhauer. Dürfen wir unsere Selbstachtung wirklich weiterhin davon abhängig machen, was sie von uns denken? Dürfen wir die Beurteilung unseres Werts einer Runde Kartenspieler überlassen? Selbst wenn sie uns respektieren: Welchen Wert hat dieser Respekt? Oder, wie Schopenhauer die Frage formulierte: »Würde wohl ein Virtuose sich geschmeichelt fühlen durch das laute Beifallklatschen seines Publikums, wenn ihm bekannt wäre, dass es, bis auf Einen oder Zwei, aus lauter völlig Tauben bestände ...?«
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Der Nachteil dieses illusionslos klaren Blicks auf die Menschheit ist, dass uns wohl nur wenig Freunde bleiben dürften. Schon Schopenhauers philosophischer Gesinnungsgenosse Chamfort ahnte: »Wenn wir beschlossen haben, nur die zu achten, die uns tugendhaft, vernünftig und ehrlich begegnen, ohne in Konventionen, Eitelkeiten und Zeremonien etwas anderes zu sehen als Staffagen einer artigen Gesellschaft; wenn wir uns dazu entschlossen haben (und wir müssen es tun, wenn wir nicht zu Narren, Schwächlingen oder Schuften werden wollen), müssen wir damit rechnen, mehr oder weniger allein zu bleiben.«
Schopenhauer sah dieser Gefahr gelassen entgegen. Man habe in der Welt »nicht viel mehr als die Wahl zwischen Einsamkeit und Gemeinheit«, befand er und fügte den Rat an: »Ein Hauptstudium der Jugend sollte sein, die Einsamkeit ertragen zu lernen«, denn »je mehr Einer an sich selber hat, je weniger können Andere ihm sein.« Zum Glück werde jeder vernünftige Mensch, wenn er eine Zeit lang mit anderen gelebt und gearbeitet hat, »zu häufiger Gemeinschaft mit den Übrigen so wenig Neigung fühlen, als den Pädagogen anwandelt, sich in das Spiel der ihn umlärmenden Kinderherde zu mischen«.
Dennoch bedeutet die Entschlossenheit, die Menschheit zu meiden, nicht zwangsläufig, dass man überhaupt kein Verlangen nach Gesellschaft hat. Es kann sein, dass in ihr nur die Unzufriedenheit mit dem vorhandenen Angebot zum Ausdruck kommt. Zyniker, sagt man, sind Idealisten mit überzogenen Maßstäben. Oder mit Chamfort zu sprechen: »Manchmal heißt es von einem Mann, der allein lebt, er verabscheue die Geselligkeit. Das ist, als würde man von einem Mann, der nachts den Wald von Bondy meidet, behaupten, er gehe nicht gern spazieren.«
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Aus der Abgeschiedenheit ihrer Studierstuben heraus empfehlen die Philosophen, man solle lieber dem eigenen Gewissen folgen, statt bei seinen Mitmenschen nach kleinsten Zeichen der Ablehnung oder Zustimmung zu suchen. Was zählt ist nicht, wie wir einer beliebigen Gruppe erscheinen, sondern dass wir wissen, wie wir wirklich sind. Schopenhauer formuliert dazu, »dass jeder Vorwurf nur in dem Maße, als er trifft, verletzen kann____ Wer daher wirklich sich bewusst ist, einen Vorwurf nicht zu verdienen, darf und wird ihn getrost verachten.«
Was wir dem Rat der Misanthropen entnehmen können, ist vor allem dieses: Wir sollten die kindische Angst um unseren Status überwinden, weil uns diese Haltung in der Konsequenz dazu zwingt, jeden zum Duell zu fordern und zu töten, der es wagt, schlecht von uns zu denken. Viel besser und zufriedenstellender ist es, sich auf das fundierte Bewusstsein des
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