StatusAngst
Äpfeln und Birnen, unscheinbaren Leuten, die in einfachen Küchen und Stuben ihrer Beschäftigung nachgingen.
Das waren nicht die Themen, mit denen sich ein großer Maler zu befassen hatte, wenn er sich an die Regeln der Académie de Peinture et de Sculpture hielt. Nach ihrer Gründung durch Ludwig XIV. im Jahr 164ci wies die Académie den verschiedenen Genres der Malerei eine Rangordnung zu. Ganz oben stand die Historienmalerei mit antiken oder biblischen Szenen, dann kam die Porträtmalerei, die sich ihre Sujets vorzugsweise am Hofe suchte, an dritter Stelle folgte die Landschaftsmalerei und ganz zuletzt die Sparte, die mit der abfälligen Bezeichnung »Genre-Szenen« belegt wurde und das häusliche Leben der gemeinen Leute zeigte.
Jean-Baptiste Chardin, Genesungsmahl, 1746
Diese künstlerische Hierarchie war der direkte Ausdruck der sozialen Hierarchie, in der ein König zu Pferde natürlich hoch über der einfachen, mit Hausarbeit beschäftigten Frau stand.
Aber in Chardins Bildern verbirgt sich die subversive Kritik an einer Auffassung von Kunst und Leben, die eine Hausfrau für wertlos erachtete — oder einen alten Krug, der das Licht der Nachmittagssonne einfängt. (Marcel Proust:
»Chardin hat uns gelehrt, dass eine Birne so voller Leben sein kann wie eine Frau, dass auch ein Krug so schön ist wie ein Edelstein.«)
Die Geschichte der Malerei weist einige wenige Gesinnungsgenossen Chardins auf, einige wenige, aber großartige Korrektive unserer gewohnten Wertvorstellungen. Zum Beispiel den walisischen Maler Thomas Jones, der zwischen 1776 und 1783 in Italien wirkte, erst in Rom, dann in Neapel.
Thomas Jones, Dächer in Neapel, 1782
Thomas Jones, Häuser, Neapel, 1782
Und in Neapel, in den ersten Tagen des April 1782, vollendete Jones zwei der vielleicht bedeutendsten Öl-auf-Karton-Gemälde, die in der abendländischen Kunst zu finden sind - Dächer, Neapel (Ashmolean Museum, Oxford) und Häuser in Neapel (National Museum of Wales, Cardiff). Die Motive sind uns von vielen mediterranen Bildern her vertraut — enge Gassen, dicht gedrängte Bauten, die an die nackten Flanken der angrenzenden Häuser stoßen. In der Hitze des sommerlichen Nachmittags liegen die Straßen still und verlassen da, die Fensterläden sind halb geschlossen. In einem Zimmer sieht man den schemenhaften Umriss einer Frau, in einem anderen einen schlafenden Mann. Irgendwo schreit vielleicht ein Kind, oder man hört das Füßescharren einer alten Frau, die auf der Dachterrasse mit dem rostigen Geländer ihre Wäsche aufhängt.
Christen Kobke, Blick auf den Sortedamer See, 1838
Jones fuhrt uns das intensive Licht des Südens vor, wie es auf das verwitterte Gemäuer trifft — Licht, das jede Scharte und jeden Riss betont und das Vergehen der Zeit so eindrucksvoll beschwört, wie es die rauen Hände eines alten Fischers vermöchten, Zeit, die den Zyklus durchläuft, bis die Stasis der Sommerglut tosenden Winterstürmen weicht und diese, schließlich, den ersten zaghaften Sonnenstrahlen des Frühlings. Die sonnendurchglühten Mauern zeigen ihre Verwandtschaft mit Lehm, Gips und dem bröckelnden Gestein des italienischen Karsts. Das Gewirr der Häuser und Gassen enthüllt die ganze Vielfalt des Leben — jedes Fenster ist ein Roman für sich; es bietet Einblick in Schicksale voller Leidenschaft, Langeweile, Übermut, Verzweiflung.
Viel zu selten achten wir auf Dächer, viel zu schnell lassen wir uns von den augenfälligen Attraktionen eines römischen Tempels oder eines Renaissancepalasts ablenken. Jones führt uns die so oft übersehene Dach-Landschaft vor Augen und macht ihre versteckte Schönheit sichtbar, so dass sie für immer in unsere Vorstellung vom Glück eingeht.
Der dänische Maler Christen Kobke war ebenfalls ein großer Künstler, der die herrschenden Wertvorstellungen in Frage stellte. Zwischen 1832 und 1838 durchstreifte er die Vororte, Straßen und Gärten seiner Heimatstadt Kopenhagen und malte Kühe auf einer sonnigen Weide; er fing alltägliche Szenen ein wie die am Seeufer: Zwei Männer und ihre Frauen kehren von einer Segelpartie zurück - es ist einer jener langen Sommerabende, an denen die Nacht sich nur zögerlich über das Land senkt und das Abendlicht eine kleine Ewigkeit den riesigen Himmel färbt (soeben könnte der Mond aufgegangen sein), Licht, welches eine milde Nacht verheißt, in der man bei offenen Fenstern wird schlafen können oder gar draußen auf Decken im
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