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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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    Dorothea Brook steht der heiligen Theresa möglicherweise an Tugenden nicht nach, aber in einer Welt, die nur auf Statussymbole achtet, kommen sie nicht zur Wirkung. Weil sie als Witwe eines Geistlichen kurz nach Ablauf des Trauerjahrs ihre Erbschaft aufgibt und den Vetter ihres Mannes heiratet (er ist ärmlich und von niederem Stande), gilt es als ausgemacht, dass sie keine »gute Frau« ist. Sie kommt ins Gerede und wird geächtet. »Sicherlich waren die entscheidenden Handlungen ihres Lebens nicht in jeder Hinsicht schön«, räumt die Autorin ein. »Sie waren ein Gemisch aus jugendlichen und edlen Impulsen und den Gegebenheiten unvollkommener sozialer Verhältnisse.« Doch in wenigen Worten, Zeilen, die zu den anrührendsten der englischen Literatur dieser Epoche gehören, bittet uns Eliot, von Dorothys Mesalliance und mangelndem Glanz abzusehen und zu erkennen, dass ihr Charakter trotz des bescheidenen häuslichen Wirkkreises dem der heiligen Theresa gleicht: »Ihr fein gesponnener Geist hatte seine guten Seiten, auch wenn sie nicht weithin erkennbar waren. Ihr reiches Wesen verströmte sich in Kanäle, die keinen bedeutenden Namen auf Erden hatten. Aber die Wirkung ihrer Anwesenheit auf die, welche sie umgaben, war nicht recht zu ermessen, denn das Besserwerden der Welt hängt teilweise von unscheinbaren Taten ab; und dass es um mich und dich nicht so schlimm steht, wie es hätte kommen können, ist zur Hälfte das Verdienst der vielen, die treu und brav im Verborgenen leben und in unbesuchten Gräbern ruhen.«
    Wenige Zeilen nur, doch sie enthalten den ganzen Entwurf eines Romans, dessen Kunst uns hilft, den Wert eines jeden solchen verborgenen und im Grab vergessenen Lebens zu erkennen und zu würdigen. »Wenn die Kunst nicht die Empfindungskraft der Menschen stärkt, dann hat sie moralisch nichts bewirkt«, erklärt George Eliot.
    Im Roman Zähne zeigen (dt. 2002) von Zadie Smith begegnen wir Samad, einem Bangladesher mittleren Alters, der als Kellner in einem indischen Restaurant Londons arbeitet. Seine Vorgesetzten stoßen ihn herum, er ist bis drei Uhr morgens auf den Beinen und muss primitive Kunden bedienen, die ihm dafür großzügig ein paar Penny hinwerfen. Samad träumt davon, seine Würde wieder zu erlangen, den materiellen und psychischen Konsequenzen seines niederen Status zu entkommen. Er sehnt sich danach, anderen den Reichtum zu zeigen, der in ihm steckt und den die Kunden nicht erkennen, weil sie kaum zu ihm hochsehen, wenn sie ihr Essen bestellen (»Schickn-Körri. Mit Pommes. Danke«). Er malt sich aus, er trage ein Schild um den Hals, aus weißem Karton und mit Lettern so groß, dass die ganze Welt sie erkennen müsste:
     
    ICH BIN KEIN KELLNER. ICH WAR STUDENT, WISSENSCHAFTLER, SOLDAT, MEINE FRAU HEISST ALSANA, WIR WOHNEN IN EAST LONDON, ABER WIR WÜRDEN LIEBER IN DEN NORDEN ZIEHEN. ICH BIN MUSLIM, ABER ALLAH HAT MICH VERLASSEN, ODER ICH HABE ALLAH VERLASSEN, ICH WEISS ES NICHT. ICH HABE EINEN FREUND - ARCHIE - UND ANDERE FREUNDE. ICH BIN NEUNUNDVIERZIG, ABER DIE FRAUEN DREHEN SICH NOCH IMMER NACH MIR UM. MANCHMAL.
     
    Aus dem Schild wird nichts, aber er tut etwas anderes. Er findet einen Romanautor, der ihm eine Stimme verleiht, einen ganzen Roman, in dem er gewissermaßen selbst zu einem riesigen Schild wird, das es seinen Lesern ein kleines bisschen schwerer macht, den Kellner im Lokal wie Luft zu behandeln. Nach der Lektüre des Romans ist unsere Sensibilität gewachsen; überhaupt ließe sich die Geschichte des Romans als eine lange Prozession von Schildern denken, die der Welt verkünden:
     
    ich bin mehr als nur kellner, geschiedene, ehebrecher, dieb, mann ohne bildung, sonderbares kind, mörder, sträfling, schulversager oder scheue, sprachlose person.
     

 
3
     
    Auch Bilder stellen die gängigen Werthierarchien in Frage. Jean-Baptiste Chardin schuf das Gemälde Genesungsmahl im Jahr 1746. Eine schlicht gekleidete Frau steht in einem spärlich möblierten Raum und pellt geduldig ein Ei für eine kranke Person, die wir nicht sehen - ein gewöhnlicher Moment im Leben eines gewöhnlichen Menschen. Wozu wird so etwas gemalt? Mit dieser skeptischen Frage wurde Chardin im Verlauf seiner Karriere des Öfteren konfrontiert. Dieser hochbegabte Maler zog es rätselhafterweise vor, seine Aufmerksamkeit Brotlaiben zu widmen, zerbrochenen Tellern, Messern und Gabeln,

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