StatusAngst
zu stellen, psychologisch tiefgründig und respektvoll wie keine andere Kunstform das Scheitern eines Menschen zu zeigen, ohne ihm das Recht auf Gehör zu entziehen.
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In seiner Poetik (um 350 v. Chr.) versuchte Aristoteles, die Wesensmerkmale der Tragödie zu bestimmen. Man benötige eine zentrale Figur, die Handlung müsse sich in einer relativ kurzen Zeitspanne entfalten und der Wechsel im Geschick des Helden dürfe, natürlich, nicht von Unglück zu Glück, sondern müsse umgekehrt von Glück zu Unglück verlaufen.
Aber er nannte zwei weitere, aufschlussreichere Merkmale. Ein tragischer Held dürfe weder besonders gut noch besonders schlecht sein, ethisch gesehen ein Normalsterblicher, damit sich jeder mit ihm identifizieren könne - ein Mensch also mit guten Anlagen, behaftet jedoch mit einem Makel wie Jähzorn oder übertriebenem Stolz. Dieser Mensch begehe sodann einen verhängnisvollen Fehler, und zwar nicht aus niederen Motiven, sondern aufgrund dessen, was Aristoteles hamartia nannte, einer Fehlentscheidung, einer Verblendung, eines tatsächlichen oder emotionalen Fauxpas. Und aus der hamartia erwachse die schrecklichste peripeteia oder Schicksalswende, in deren Verlauf der Held alles verliere, was ihm wert und teuer sei, fast unausweichlich auch das eigene Leben.
Die normale Wirkung einer Tragödie bestehe im Mitleid mit dem Helden und einer Furcht vor dem eigenen Verhängnis, die aus der Identifikation mit dem Helden erwachse. Die Tragödie erziehe zur Demut vor der Macht des Schicksals und zum Mitgefühl mit jenen, die es ereile. Im Idealfall verließen wir das Theater kuriert vom Drang, über die Gescheiterten und Gestrauchelten leichtfertig und verächtlich zu urteilen.
Das Mitleid, so lehrt uns Aristoteles, resultiert fast immer aus der bangen Einsicht, dass auch wir unter gewissen Umständen in eine ähnlich desaströse Lage geraten könnten. Und es lässt in dem Maße nach, wie des Protagonisten Tun außerhalb des für uns selbst Denkbaren liegt. Der muss ja verrückt gewesen sein, werden wir vielleicht erwidern, wenn wir von einem Menschen hören, der überstürzt geheiratet, Inzest begangen, aus Eifersucht gemordet, seinen Gebieter belogen, Geld gestohlen oder um der Habgier willen sein Leben ruiniert hat. Im Glauben, gegen solche Fehler gefeit zu sein, setzen wir uns aufs hohe Ross, vergessen alle Toleranz und üben uns stattdessen in kalter Verachtung.
Aber die Tragödiendichter konfrontieren uns mit einer beinahe unerträglichen Wahrheit: Jeder Irrtum oder Fehler, dessen sich ein Mensch schuldig macht, hat seine letzte Ursache darin, dass wir Menschen sind, dass wir die ganze Spannweite menschlicher Stärken und Schwächen in uns tragen und dass auch wir unter den richtigen oder vielmehr falschen Umständen zu allem fähig sind. Sind die Zuschauer zu dieser Einsicht gelangt, steigen sie vielleicht freiwillig von ihrem hohen Ross, spüren in sich Regungen des Mitleids und der Demut und begreifen, wie nahe sie selbst dem Abgrund sind, wie schnell sie über eine charakterliche Schwäche, die ihnen bislang nicht geschadet hat, stolpern können — genauso wie der arme geschmähte Held, den die billige Schlagzeile Inzest- S kandal in der königsfamilie trifft.
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Das Schauspiel, das nahezu vollkommen die Forderungen der aristotelischen Tragödie erfüllte, war König Ödipus von Sophokles, das erstmals im Frühjahr 430 v. Chr. anlässlich des Dionysos-Fests in Athen aufgeführt wurde.
Ödipus, König von Theben, wird von seinem Volk verehrt, weil er ein gütiger Herrscher ist und weil er die Sphinx überlistet hatte, die einst die Stadt bedrohte - für eben diese Heldentat war er mit dem Thron belohnt worden. Dennoch ist der König nicht ohne Fehl. Er ist impulsiv und neigt zum Jähzorn. In seiner Jugend, lange bevor das Drama einsetzt, hat er sich im Zorn dazu verleiten lassen, auf der Straße nach Theben einen alten Mann zu töten, der ihm nicht aus dem Weg gehen wollte. Der Vorfall war so gut wie vergessen, denn kurz darauf hatte Ödipus seinen Sieg über die Sphinx errungen, der Stadt Wohlstand und Frieden gebracht und die schöne Jokaste geheiratet, Witwe des Laios, seines Thronvorgängers. Dieser war unter ungeklärten Umständen beim Kampf mit einem jungen Mann auf der Straße nach Theben ums Leben gekommen.
Das Drama beginnt jedoch mit einem neuen Unglück, das die Stadt heimgesucht hat. Eine rätselhafte Seuche wütet unter der Bevölkerung. In ihrer
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