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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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Gras.
     

    Christen Kübke,
    Das Dach des Frederiksborger Schlosses, 1834/35
     
    Er malte die Aussicht vom Dach des Schlosses Frederiksborg auf den schmucken Flickenteppich der Felder, Gärten und Gehöfte — auf ein geordnetes Gemeinwesen, das sich mit den Freuden des einfachen Lebens begnügt.
    Wie das Werk Chardins und Jones' fordert die Kunst Kobkes heraus, stellt den Konsens darüber in Frage, was bedeutsam sei. Diese drei Maler scheinen zu verkünden: Wenn ein sommerlicher Abendhimmel, eine sonnendurchglühte alte Hauswand oder eine Unbekannte mit Ei zum Schönsten zählen, was wir je zu erblicken hoffen können, dann müssen wir den Wert vieles dessen in Frage stellen, was man uns zu bewundern gelehrt hat.
    Es mag weit hergeholt klingen, wenn wir dem Krug auf dem Wandbord, der Kuh auf der Weide so etwas wie politische Programmatik unterstellen, doch die Moral von Werken eines Kobke, Jones und Chardin reicht beängstigend weit über die hinaus, die wir einem Stück Leinen oder Papier sonst zuzuschreiben geneigt sind. Wie Jane Austen oder George Eliot können uns auch die großen Maler des Alltäglichen helfen, eine Reihe snobistischer Wertvorstellungen zu korrigieren.
     

    Christen Kobke, Blick auf die Umgebung des Lime Kiln, 1834/35

     

 
     
     
     
     
Die Tragödie
     
1
     
    Die Angst, an unseren Aufgaben zu scheitern, wäre wohl halb so groß, gäbe es da nicht das Wissen darum, wie scharf oft jedes Versagen von anderen geahndet wird. Zur Angst vor den materiellen Konsequenzen des Scheiterns gesellt sich die Angst vor der Ablehnung durch eine Umgebung, die dazu neigt, Gescheiterte als »Loser« abzustempeln und zu signalisieren, sie hätten nicht nur verloren, sondern jedes Recht auf Mitgefühl verwirkt.
    Der Tonfall, in dem über diese Menschen und ihre gescheiterten Lebensentwürfe geurteilt wird, lässt vermuten, dass Odipus, Antigone, Lear, Othello, Emma Bovary, Anna Karenina, Hedda Gabler oder Tess, wäre deren Schicksal von Kollegen oder ehemaligen Schulkameraden durchgehechelt worden, keine gute Figur gemacht hätten. Noch schlimmer wäre es ihnen ergangen, hätte sich die Presse über sie hergemacht:
     
    Othello: L iebestoller A usländer ermordet  S enatorentochter
    König Ödipus:    Inzest- S kandal in der K önigsfamilie
    Madame Bovary: K aufsüchtige E hebrecherin begeht  K reditbetrug und schluckt A rsen:  T ot.
     
    Wenn uns diese Schlagzeilen unangemessen erscheinen, dann deshalb, weil wir in den Betroffenen tragische Gestalten sehen, die Ehrfurcht und Respekt verdienen und nicht die billige Bloßstellung, mit der die Boulevardpresse ihre Opfer so gern traktiert.
    Doch bei Lichte besehen ist an diesen Gestalten nichts, was uns zwingend Ehrfurcht oder Respekt einflößen müsste. Dass sie uns so edel erscheinen, hat wenig mit ihren charakterlichen Qualitäten zu tun, sehr viel hingegen mit der Interpretation, die uns ihre Schöpfer und Chronisten nahe legten.
    Es gibt eine besondere Kunstform, die sich seit ihren Anfängen dadurch auszeichnet, dass sie Schicksale gescheiterter Helden schildert, ohne sie von der Verantwortung für ihr Tun freizusprechen, aber auch ohne sie zu verspotten oder zu verurteilen. Das besondere Verdienst dieser Kunstform besteht darin, dass sie ihren Helden - in Ungnade gefallenen Staatenlenkern, Mördern, Bankrotteuren, Besessenen — eben das Maß an Mitgefühl zugesteht, auf das jeder Mensch ein Anrecht hat, auch wenn es ihm selten gewährt wird.
     

 
2
     
    Die Kunst der Tragödie hat ihren Ursprung im griechischen Theater des 6. Jahrhunderts v. Chr. und schildert das Schicksal eines Helden meist hoher Geburt, König oder Krieger, der durch eigenes Verschulden seiner Ehre verlustig geht und in Schimpf und Schande endet. Die Art der Darstellung ließ die Zuschauer zögern, den Helden für sein Tun zu verdammen, und erinnerte zugleich daran, wie leicht auch ihnen in einer vergleichbaren Situation gleiches Unglück widerfahren könnte. Die Tragödie stimmte traurig angesichts der Schwierigkeit, ein rechtschaffenes Leben zu führen, und nachdenklich angesichts derer, die bei diesem Versuch scheiterten.
    Wenn die Boulevardpresse, die keine tragischen Helden, sondern nur Perverse, Verrückte und Versager kennt, am einen Ende des Mitleidsspektrums liegt, dann befindet sich die Tragödie am anderen, indem sie versucht, eine Brücke zu schlagen von den schuldig Gewordenen zu den scheinbar Unschuldigen, den überkommenen Begriff der Verantwortung in Frage

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