StatusAngst
geb. Couturier aus der Kleinstadt Ry bei Rouen hatte, weil sie sich in ihrer Ehe langweilte, mit dem Kauf überflüssiger Kleider und Gegenstände gewaltige Schulden gemacht, zudem eine Affäre begonnen und sich, als alles aufzufliegen drohte, mit Arsen vergiftet. Madame Delamare hinterließ eine kleine Tochter und einen verzweifelten Ehemann: Der Mediziner Eugène Delamare arbeitete im Gesundheitsamt der Stadt Ry und war allgemein beliebt.
Zufällig las der angehende Schriftsteller Gustave Flaubert, ebenfalls 27Jahre alt, diese Meldung, und die Geschichte ließ ihn nicht mehr los. Sie verfolgte ihn auf seinen Reisen durch Ägypten und Palästina, bis er sich im September 1851 hinsetzte und die Arbeit an seinem Roman Madame Bovary begann, der sechs Jahre später in Paris erschien.
Damit sich die Ehebrecherin aus Ry in Madame Bovary verwandeln konnte, machte die Geschichte viele Wandlungen durch. Eine der wichtigsten bestand darin, dass sie keine platte Moral mehr verkündete. Der Fall der Delphine Delamare hatte den Provinzjournalisten dazu gedient, die zunehmende Kommerzialisierung und den Verfall der Sitten anzuprangern. Flaubert jedoch galt die Kunst geradezu als Antithese zu krudem Moralismus. Sie bot den Freiraum, menschliches Verhalten und menschliche Motive mit einer Gründlichkeit zu erforschen, die jeden Versuch, die Welt in Gut und Böse einzuteilen, Lügen strafte. Die Leser des Romans Madame Bovary lernen Emmas naive Vorstellungen von der Liebe kennen und auch den Ursprung dieser Vorstellungen, weil sie ihr in die Kindheit folgen, sie schauen ihr über die Schulter, als sie die Klosterschule besucht, sitzen mit ihr und dem Vater an den langen Sommernachmittagen in Tostes in der Küche des Bauernhofes, vernehmen das Grunzen der Schweine und das Gackern der Hühner. Sie sind dabei, als Emma und Charles eine unglückliche Ehe eingehen, und begreifen, dass Charles aus Einsamkeit heiratet und weil ihn Emmas Schönheit reizt, dass Emma hingegen der Enge des bisher gekannten Lebens und dem Mangel an Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht jenseits von drittklassigen Liebesromanen abhelfen will. Die Leser können Charles verstehen, wenn er sich über Emma beklagt, und sie können Emma verstehen, wenn sie sich über Charles beklagt. Flaubert scheint es geradezu darauf angelegt zu haben, den Lesern die Suche nach bequemen Antworten unmöglich zu machen. Kaum rückt er Emma in ein günstiges Licht, konterkariert er dies mit einer ironischen Bemerkung. Und wenn die Leser langsam die Geduld mit ihr verlieren, weil sie in ihr nur noch die egozentrische Hedonistin sehen, weckt er neue Sympathien für sie und schildert ihre Gefühle so ergreifend, dass den Lesern die Tränen kommen. Als dann ihr Ruf ruiniert ist, sie Arsen schluckt und sich ins Bett legt, um den Tod zu erwarten, dürfte es unter ihnen kaum noch einen geben, dem der Sinn nach Verurteilung steht.
Wir beschließen die Lektüre voller Furcht und Trauer darüber, dass wir leben, ehe wir gelernt haben, wie man lebt, darüber, wie wenig wir von uns und unseren Mitmenschen verstehen, wie folgenschwer unser Tun ist und wie unerbittlich uns die Tugendwächter der Gesellschaft für unsere Irrtümer bestrafen können.
7
Sehen oder lesen wir eine Tragödie, sind wir unendlich weit von der Schlagzeile K aufsüchtige E hebrecherin vergiftet sich mit A rsen entfernt. Das Tragische veranlasst uns, die Niederlagen und Verfehlungen anderer nicht vorschnell zu verurteilen, und es fördert unser Verständnis für die kleinen Schwächen und Übertretungen, die in der Natur des Menschen liegen.
Hätten wir alle Lektionen gelernt, die uns die Tragödie vermittelt, würden die Folgen unserer Fehler kaum noch so schwer auf uns lasten.
Die Komödie
1
Den Sommer 1831 verlebte der französische König Louis Philippe in großer Zuversicht. Das politische und wirtschaftliche Chaos der Juli-Revolution von 1830, die ihn an die Macht gebracht hatte, wich langsam der Prosperität und Ordnung. Ein fähiges Kabinett unter Premierminister Casimir Périer führte die Regierungsgeschäfte, er selbst war durch die nördlichen und östlichen Départements gereist und hatte sich vom provinziellen Mittelstand als Held feiern lassen. Er wohnte standesgemäß im Palais Royal jede Woche fanden ihm zu Ehren Bankette statt. Er liebte das Essen (besonders Gänseleber und Wild), besaß ein gewaltiges Vermögen und war mit einer liebenden Frau und mit Kindern
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