StatusAngst
stolz, begehrlich, pünktlich, methodisch, vernünftig, phantasielos, unempfindlich und ignorant. Die Leute, die arm bleiben, sind die gänzlich Dummen, gänzlich Weisen, die Müßiggänger, die Hazadeure, die Demütigen, die Nachdenklichen, die Abgestumpften, die Phantasievollen, die Gefühlvollen, die gut Informierten, die Sorglosen, die gelegentlich und unbedacht Bösen, der ungeschickte Spitzbube, der unverhohlene Dieb und der von Grund auf barmherzige, gerechte und gottgefällige Mensch.«
Mit anderen Worten, beide Gruppen setzen sich aus einer nicht zu ordnenden Vielfalt von Charakteren zusammen, das heißt, um auf die Botschaft zurückzugreifen, die zuerst Jesus verkündete und die in der Folge von den politischen Köpfen des 19. und 20.Jahrhunderts in weltliche Begriffe gefasst wurde, dass es uns nicht zuvörderst darum zu tun zu sein habe, die Ehrenhaftigkeit einer Person an ihrem Reichtum zu messen. Eine Vielzahl von äußeren und inneren Faktoren haben Anteil daran, dass der eine reich wird, der andere bedürftig. Etwa Glück und Umstand, Krankheit und Angst, Zufall und Kenntnisse, die Gunst der Stunde oder simples Pech.
Dreihundert Jahre vor Ruskin und Shaw hatte Michel de Montaigne ähnliche Überlegungen angestellt, indem er der Kontingenz entscheidenden Einfluß auf den Verlauf des Lebens zuwies: »Ja, das launische Schicksal ist es, das uns den Ruhm zufallen lässt. Oft habe ich ihn dem Verdienst vorausgehen und dieses weit übertreffen sehn.«
Eine nüchterne Überprüfung unserer Erfolge und Misserfolge dürfte uns davon überzeugen, dass es Gründe genug gibt, weder zu stolz noch wiederum von Scham über uns überwältigt zu sein, denn ein bedenklicher Anteil dessen, was uns widerfährt, geschieht ohne unser Zutun. Montaig ne empfiehlt, unsere Erregung zu mäßigen, wenn wir den Reichen und Mächtigen begegnen, und unser Urteil, wenn wir auf die Armen und Unscheinbaren treffen. »Da hat einer ein zahlreiches Gefolge, einen schönen Palast, hohes Ansehn und große Einkünfte - aber all das ist um ihn, nicht in ihm ... Messt den Menschen ohne seine Stelzen. Lege er seine Reichtümer und Ehrentitel ab, stelle er sich im Hemd vor! ... Wie steht es mit seiner Seele? Ist sie schön, lebendig und im glücklichen Vollbesitz ihrer Kräfte? Ist sie reich an Eignem oder nur an Angeeignetem? Ist sie gegen Fortunas Launen gefeit? ... hierauf gilt es zu achten, um sich daraus ein Urteil über die ungeheuren Unterschiede zu bilden, die zwischen uns bestehn.«
Gemeinsam ist allen Bedenken gegen das kommerzielle meritokratische Ideal der Aufruf, ein so willkürlich verteiltes Gut wie den Reichtum nicht länger als Maßstab moralischer Bewertungen zu dulden, der Doktrin der Verknüpfung von Reichtum mit Tugend abzuschwören — und unsere Stelzen beiseite zu tun, ehe wir urteilen.
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Neben der behaupteten Korrelation zwischen Reichtum und charakterlichen Qualitäten setzt das heutige Erfolgsmodell Geldmachen und Glücklichsein in eins.
Dieser Glaube wiederum beruht auf drei Grundannahmen. Erstens, dass es nicht übermäßig schwer ist, herauszubekommen, was uns glücklich macht. So wie der Körper schon weiß, was er braucht, um gesund zu bleiben, bei Natriummangel in uns den Appetit auf Räucherfisch weckt und bei niedrigem Blutzuckerspiegel nach Pfirsichen verlangt, können wir — so lautet zumindest die These — darauf bauen, dass unser Geist zuverlässig die ihm bekömmlichen Ziele erkennt und uns selbstverständlich zu bestimmten Karrieren oder Vorhaben drängt. Die zweite Annahme: Die enorme Vielfalt der Betätigungsfelder und Konsumangebote der modernen Zivilisation ist keine schrille Reklameveranstaltung zur Erzeugung künstlicher Bedürfnisse, sondern angetan, einige unserer wesentlichen Wünsche zu erfüllen. Drittens, je mehr Geld uns zur Verfügung steht, umso mehr können wir uns leisten und umso größer ist die Chance, glücklich zu sein.
Der überzeugendste und beredteste Gegner dieser Auffassungen ist und bleibt Jean-Jacques Rousseau mit seinem Diskurs über die Ursachen der Ungleichheit (1754). Rousseau geht von der Behauptung aus, dass wir, für wie frei wir uns im Denken auch halten mögen, Stümper sind in der Ergründung unserer eigenen Bedürfnisse. Unsere Seele stellt nur selten klar, was sie zu ihrer Zufriedenheit benötigt, oder, so sie doch einmal murmelt, erweisen sich ihre Kommandos als widersprüchlich und unbegründet. Statt die Seele mit dem Körper zu vergleichen,
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