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StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
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der von sich aus weiß, was gut für ihn ist, schlägt Rousseau vor, an einen Körper zu denken, der nach Wein verlangt, wenn er Wasser braucht, und unbedingt tanzen will, wenn er ins Bett gehört. Wir sind sehr anfällig für verführerische Stimmen von außen, die den schwachen Protest unserer Seele übertönen und uns von der gewissenhaften und mühsamen Erkundung unserer wahren Anliegen ablenken.
    Sodann zeichnet Rousseau die Weltgeschichte nach nicht als Fortschritt von der Barbarei bis hin zu den großen Manufakturen und Städten, sondern im Gegenteil als Rückentwicklung von einem Idealzustand, in dem der Mensch sehr einfach lebte, dafür aber Gelegenheit hatte, seine Bedürfnisse auszuloten, hin zu einer Existenz, in der wir mit Neid auf Lebensweisen blicken, die nur noch wenig mit unserem wahren Wesen zu tun haben. In der technisch rückständigen Vorzeit, in Rousseaus Naturzustand, da die Menschen in den Wäldern lebten, nie einen Laden betreten oder eine Zeitung gelesen hatten, waren sie der Vorstellung des Philosophen nach sich selbst sehr viel näher und wussten von sich aus, worauf es ankam: auf Liebe zur Familie, Respekt vor der Natur, ehrfürchtiges Staunen im Angesicht der Schönheit des Universums, Interesse an den Mitmenschen, Sinn für Musik und schlichte Vergnügungen. Das war der Zustand, aus dem uns die moderne »Zivilisation« herausgerissen hatte, um uns nichts als Neid und Gier und das Leiden an einer Welt des Überflusses zu lassen.
    Wer diese Darstellung als romantische Fiktion eines Vertreters der pastoralen Literatur abtun will, der sich über alles Moderne ereifert, dem sei gesagt, dass Rousseaus Gedanken im 18 . Jahrhundert vor allem deshalb Anklang fanden, weil manchem das Schicksal der Indianer Nordamerikas als erschütternder Beleg sehr deutlich vor Augen stand.
    Schilderungen indianischer Stammeskulturen aus dem 16. Jahrhundert wiesen diese als materiell schlicht, dabei aber seelisch reich aus: überschaubare, fest gefügte Gemeinschaften, egalitär, spirituell, spielfreudig, kriegerisch. Gewiss, in finanzieller Hinsicht waren diese Stämme rückständig. Sie lebten als Jäger und Sammler, schliefen in Zelten und besaßen nur wenig. Jahr für Jahr trugen sie dieselben Pelze und Mokassins. Selbst dem Häuptling gehörte kaum mehr als sein Speer und ein paar Töpfe. Nichtsdestotrotz wurde von großer Zufriedenheit inmitten dieser Kargheit berichtet.
    Nur wenige Jahrzehnte jedoch nach der Ankunft der ersten Europäer erlebte das Statussystem der Indianer eine völlige Umwälzung. Der Kontakt mit den technischen Errungenschaften und Luxusgütern Europas unterminierte die Bedeutung von Weisheit und Kenntnis der Natur, jetzt zählten der Besitz an Waffen, Schmuck und Alkohol. Jetzt gierten die Indianer nach silbernen Ohrringen, Armreifen aus Kupfer und Messing, Fingerringen aus Blech, Glasperlenketten, nach Meißeln, Gewehren, Alkohol, Hacken, Kesseln und Spiegeln.
    Diese neuen Begierden entstanden nicht von ungefähr. Europäische Händler schürten ganz gezielt die Gelüste der Indianer, um sie so zur Jagd nach den in Europa begehrten Pelzen zu animieren. Um 1690 berichtete der englische Naturalist Reverend John Banister, die Indianer im Gebiet der Hudson Bay seien von den Händlern mit Erfolg angestiftet worden, »viele Dinge zu begehren, die sie zuvor nicht vermissten, da sie diese nie besaßen, die ihnen aber nun infolge des Handels unentbehrlich geworden sind«. Zwanzigjahre später beobachtete der Reisende Robert Beverley: »Die Europäer haben einen Luxus unter den Indianern verbreitet, der ihre Bedürfnisse vervielfacht hat und in ihnen das Verlangen nach tausend Dingen weckt, von denen sie zuvor nicht einmal geträumt hatten.«
    Leider machten diese tausend Dinge, wie begehrt auch immer, die Indianer nicht glücklicher. Sicher ist nur, dass sie härter arbeiteten. Zwischen 1739 und 1759 erlegten die zweitausend Krieger des Stamms der Cherokee 1,25 Millionen Hirsche, um die europäische Nachfrage zu befriedigen. Im selben Zeitraum tauschten die Montagnais vom Nordufer des St.-Lorenz-Stroms bei englischen und französischen Händlern in Tadoussac jährlich zwischen 12000 und 15000 Pelze ein. Ein vergleichbarer Zuwachs an Zufriedenheit indes stellte sich nicht ein. Stattdessen breitete sich der Alkoholismus aus, die Selbstmordrate stieg, Gemeinschaften zerbrachen im Streit um europäische Beute. Die Stammeshäuptlinge brauchten keinen Rousseau, um zu begreifen, was geschah, und

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