Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
StatusAngst

StatusAngst

Titel: StatusAngst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alain de Botton
Vom Netzwerk:
Armut, die nach Ansicht seiner Mitmenschen »niemand leidet, ohne sich äußerst schlecht betragen zu haben«. Nur dem, der schwer trinke, unzuverlässig, diebisch oder vollkommen unlenkbar sei, bleibe die bescheidene Anstellung verwehrt, die der Erwerb eines leinernen Hemds verlange - sodass sich umgekehrt nachfühlen lasse, wie der Besitz eines Hemdes durchaus vorerst ein gutes Zeugnis ausstelle.
    Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu der Annahme, dass »äußerst gutes Betragen« und viele andere Tugenden sich im Erwerb von unzähligen Hemden, von Jachten, Landhäusern und Edelsteinen niederschlagen. Die ganze Vorstellung des Statussymbols, eines kostspieligen Gegenstands also, der ein günstiges Licht auf seinen Besitzer wirft, ruht auf der weit verbreiteten und nicht einmal abwegigen Idee, dass der Erwerb dieser hochwertigen Dinge entsprechend hochwertige charakterliche Qualitäten voraussetzt.

 
4
    Doch die Kritiker der Meritokratie argumentieren seit langem, dass wahre menschliche Qualitäten viel komplexer sind, als dass man sie an der Höhe des Jahresgehalts messen könnte. Eine ähnliche Skepsis lässt sich bei einigen Erziehungswissenschaftlern beobachten, die abstreiten, dass sich die Intelligenz von Schülern messen lässt, indem man sie einem Test unterzieht und gemäß ihren Antworten auf Fragen wie die folgenden beurteilt:
     
    Welche dieser vier Wörter sind Antonyme?
    verstockt       verlogen      fügsam       tiefgründig
     
    Die Kritiker solcher Tests behaupten nicht, dass überragende Qualität und Intelligenz gleichmäßig verteilt oder nicht messbar wären, sondern sie wenden ein, dass bis heute niemand weiß, wie diese Fähigkeiten denn wirklich exakt zu messen wären, und wir uns daher hüten sollten, so zu tun, als sei uns dies möglich, etwa, indem wir auf ökonomischem Gebiet die Besteuerung der Reichen abschaffen (wie es einige extreme Befürworter der Meritokratie fordern, denn den Reichen stehe zu, was sie erwirtschaften) oder Sozialleistungen streichen (damit die Armen, wie dieselben Befürworter argumentieren, ihr selbst verschuldetes Elend richtig zu spüren bekommen).
    Die skeptischen Stimmen werden nicht immer gern gehört. Es ist nur zu verständlich, dass man sich Bildungs- oder Wirtschaftssysteme wünscht, die eine bequeme Auslese der Besten ermöglichen, und uns umgekehrt gestatten, die Verlierer mit gutem Gewissen sich selbst zu überlassen.
    Doch Wünsche sind keine Garantie für gute Lösungen. George Bernard Shaw schrieb in seinem Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus (1928), dass der moderne Kapitalismus Beute eines besonders dummen Rangordnungssystems geworden sei, dem folgender Glauben zugrunde liege: »Wenn jedermann nach seiner Art so viel Geld erwirtschaften darf, wie es ihm möglich ist, gehemmt nur durch die Gesetze gegen rohe Gewalt und offenen Betrug, dann wird sich der Reichtum von selbst verteilen - proportional zu Fleiß, Zielstrebigkeit und überhaupt der Tugendhaftigkeit der Bürger, so dass die Guten reich und die Schlechten arm werden.«
    Doch in Wirklichkeit, so Shaw, liege auf der Hand, dass jeder skrupellose Geschäftemacher »drei oder vier Millionen erraffen kann, indem er gepanschten Whisky verkauft oder durch Aufkäufe künstlich den Weizen verknapptem ihn dann zum dreifachen Preis zu veräußern, oder dumme Zeitungen und Zeitschriften verlegt, die irreführende Annoncen verbreiten«, während »Menschen, die ihr Höchstes aufbieten oder ihr Leben für die Förderung des menschlichen Wohls und Wissens riskieren«, in Armut und Vergessenheit enden können.
    Das vorausgeschickt, sah sich Shaw jedoch keineswegs gedrängt, in den Chor sentimentaler Stimmen, ob von rechts oder links, einzufallen, die da meinten, unter den bestehenden Verhältnissen würden stets die Guten arm und die Schlechten reich — eine Logik, die nicht weniger einfältig sei als ihr Gegenteil. Er legte vielmehr dar, dass Reichtum oder Armut nur sehr begrenzte Aussagen über moralische Qualitäten zulassen und dass man bestrebt sein muss, die Gegensätze zwischen Arm und Reich zu mildern.
    In seinem Buch Unto This Last (1862) beschrieb John Ruskin, meritokratischen Vorstellungen ähnlich abhold, in sarkastischem Tenor, welche Erkenntnisse über Arm und Reich er in vierzig Jahren im Zuge Hunderter Begegnungen mit beiden in vielen Ländern gewonnen hatte: »Diejenigen, die reich werden, sind im Allgemeinen fleißig, entschlossen,

Weitere Kostenlose Bücher