Staub zu Staub
in die Realität. Mirjam versuchte zu schlucken, doch ihr Mund gab keine Spucke her. Die braunen Augen des Jungen musterten sie mit ganz und gar nicht kindlicher Traurigkeit. „Wirst du auch vor mir wegrennen? Wirst du mich allein lassen?“
„Nein. Natürlich nicht.“ Mirjam schaute in seine Handflächen. „Was hast du da?“
„Einen Schmetterling.“ Das Insekt krabbelte über seine Finger. Die Flügel mit der Spannweite einer Streichholzschachtel trugen eine grauweiße Grundierung mit verwischten schwarzen Flecken. Es ähnelte einer riesigen Motte. Ein hässliches Ding. Die Fühler, die an ein Mascara-Kämmchen erinnerten, zitterten als würde der Falter die Haut des Jungen betasten wollen. „Ein Birkenspanner. Ich habe ihn da gefunden.“ Mit dem Kopf deutete der Kleine auf eine Pappel. „Er ist meistens nachts aktiv.“
„Du weißt eine Menge über Schmetterlinge. Wie alt bist du?“
Der Falter erreichte die Kuppe seines Zeigefingers, mit dem der Junge zum Himmel zeigte. Der Schmetterling breitete seine Flügel aus, schloss sie, spannte sie wieder. Aber er flog nicht fort.
„Die anderen sagen, er sei hässlich. Sie mögen ihn nicht. Sie wollen ihn zertrampeln.“
Am Straßenrand hielt ein Wagen. Eine Mutter stieg aus und half ihrer Tochter aus dem Kindersitz. Sie führte die Kleine zum Tor. Mirjam blickte zurück zu dem Jungen. Der Falter saß noch immer auf seinem Zeigefinger. Eine Brise schubste das Insekt hinunter, doch es krabbelte rücklings wieder auf. Mirjam lächelte dem Schmetterling zu. „Die anderen Kinder? Sie sind doof. Er kann ja nichts dafür, dass er so aussieht.“
„Magst du ihn halten?“ Vorsichtig schob der Junge den Finger mit dem Schmetterling zwischen den Zaunstäben durch. Mirjam streckte ihm die Handfläche entgegen und der Kleine schüttelte den Falter ab. „Tu ihm nicht mehr weh. Rette ihn.“
Mirjam runzelte die Stirn. „Wovor?“
„Damit die anderen ihn nicht zertrampeln. Du musst ihm helfen.“
„Warum fliegt er nicht weg?“ Die Fadenbeinchen kitzelten ihre Haut.
„Weil er zu dir gehört. Er braucht dich. Er weiß selbst noch nicht, wie sehr er dich braucht.“
Mirjam spürte einen Schauer ihren Rücken hinunterlaufen. Sprachen sie noch immer vom Schmetterling? Wer war dieser Junge, der ganz einsam auf diesem Spielplatz hockte? Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie der Wind sein Haar verwuschelte und er die Haarsträhnen zur Seite streifte. Diese Bewegung wirkte so vertraut und doch so anders.
„Wie heißt du?“, fragte Mirjam.
„Joel. Vermutlich.“
„Das ist ein sehr schöner hebräischer Name.“
„Ich weiß. Er gefällt mir auch.“ Er berührte ihren Unterarm und deutete auf den Schmetterling. „Bring ihn in Sicherheit. Pass auf ihn auf, okay?“
Das Tor quietschte und eine junge Frau kam näher. Nach wenigen Schritten blieb sie stehen und betrachtete Mirjam mit schlecht verborgenem Argwohn. „Kann ich Ihnen helfen?“
„Nein. Es ist alles in Ordnung.“
Die Frau zögerte und versteckte ihre Hände in den Ärmeln ihres Pullovers. „Eine der Mütter hat sich beschwert, dass am Zaun jemand unsere Kita beobachtet und“, sie leckte sich über ihre Lippen, „mit sich selbst redet.“
„Ich habe nicht mit mir selbst geredet. Ich habe mit dem Jungen gesprochen.“ Mirjam wandte den Kopf zum Zaun. Der Kleine war verschwunden. Nicht einmal der Sand zeigte seine Spuren. „Er stand gerade eben noch hier.“ Mit einem Blick überflog Mirjam den Spielplatz. Leer. Aus einem Fenster der Kita lugte die Frau, die das Mädchen gebracht hatte. „Joel. Er heißt Joel. Er ist bestimmt ins Haus gelaufen.“
„Bedaure, keins unserer Kinder heißt Joel. Ich möchte Sie bitten, zu gehen.“
Mirjam suchte noch einmal den Spielplatz ab, dann stand sie auf.
„In Ordnung, ich werde gehen.“ Sie wandte sich von der Frau ab und da fiel ihr auf, dass sie die Hände zu Fäusten geballt hatte. Der Schmetterling! Sie öffnete die Finger. Still lag er da, mit dünnen, zerknitterten Flügeln. Sie stupste ihn an. Er rührte sich nicht. Tot. Er war tot.
Mirjam sog tief Luft ein. Sie schlenderte die Straße entlang, stellte einen Fuß vor den anderen, während Tränen über ihre Wangen rollten und auf den Falter tropften. Aber auch sie konnten ihn nicht wiederbeleben.
Mirjam wusste nicht, wie lange sie durch die Straßen gestreift war, bis sie vor ihrem Hotel stand. Der Portier öffnete ihr die Tür und sie spürte seinen verurteilenden Blick im Rücken.
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