Staub zu Staub
eine Bewegung wahr.
„Der zweite Buchstabe im Wort ‚Chochmah’ muss ein ‚Kaph’ sein. Du hast ein ‚Beth’ genommen.“
„Sie sind so winzig.“ Mirjam stand auf und lächelte Max zu. „Aber du bist trotzdem gekommen.“
Er grinste und neigte den Kopf. Wie sie es schon so oft beobachtet hatte, fielen ihm bei dieser Bewegung Haarsträhnen in die Stirn. Er strich sie zur Seite.
„Was soll ich sagen? Ich bin nachsichtig mit jüdischen Mädchen, die an einer Schreibschwäche leiden.“
„Werde mir bloß nicht zu frech.“ Sie schöpfte eine Hand voll Schneebuchstaben, formte daraus eine Kugel und warf sie nach ihm. Max duckte sich. In hohem Bogen verschwand der weiße Punkt im Schwarz.
„Na. Was ist das für ein Umgang mit dem heiligen Alphabet? Daraus hätte man eine ganze Welt erschaffen können. Sogar ich bestehe bloß aus dreien.“
Sie kicherte, als das nächste Bällchen seine Schläfe traf.
„Na warte!“ Er schüttelte sich den Schnee aus den Haaren.
Mirjam wirbelte herum und stürmte davon. Der Rand ihrer Insel kam abrupt. Sie versuchte ihren Lauf aufzuhalten, doch ihr Fuß rutschte an der schneebedeckten Kante ab und sie stürzte ins Leere.
Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ihr Herz hämmerte immer schneller und sie glaubte, es würde gleich zerreißen, als starke Arme ihre Taille umschlossen. Noch ein kurzer Moment des freien Falls und sie wurde nach oben gezogen.
Mirjam klammerte sich um Max’ Hals und hielt inne. Auf seinem Rücken schlugen zwei riesige Flügel. Die schwarzen Federn zitterten im Luftzug.
„Du sollst nicht von den Klippen springen, wenn du nicht fliegen kannst“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Übrigens, du bist ganz schön schwer für deine Größe.“
Sie stupste seine Nasenspitze mit der ihren an. „Jammer’ nicht. An meiner Stelle hätte es auch Kristin sein können.“ Mirjam schlug ihre Beine um sein Becken. „Ich dachte, du hast Höhenangst.“
„Hier gibt es keine Höhe.“
Sie sah nach unten ins schwarze Nichts. „Stimmt. Bin ich eigentlich tot?“
„Es ist alles etwas kompliziert. Du schwingst anders. Aber ich möchte dich jetzt ungern mit der Stringtheorie volltexten.“
„Du hast Recht, es ist kein guter Zeitpunkt.“ Sie drückte sich fester an ihn und knabberte an seinem Ohrläppchen.
„Was wird das?“ Er räusperte sich und versuchte ihren Lippen zu entkommen. „Du machst mich unruhig. So kann ich nicht fliegen.“
„Dann werden wir beide abstürzen.“ Langsam rutschte sie mit ihrem Becken hoch und runter. „Das wäre aber äußerst schade. Besonders unter diesen Umständen.“
„Mirjam! Hör auf. Bitte. Es ist kein Spiel.“
Sie fuhr mit der Zungenspitze über seine Haut. „Hmm. Du schmeckst nach Kokosmilch. Wusstest du das?“
„Nein. Ich habe mich noch nie selbst abgeleckt.“ Er versteckte sein Gesicht an ihrer Schulter. „Mirjam, es ist falsch. Wir dürfen das nicht tun. Du hast keine Ahnung, was du damit anrichtest.“
Sie warf ihren Kopf in den Nacken und kicherte. Die Haarspitzen kitzelten ihren Rücken.
„Jetzt hast du mich aber neugierig gemacht.“
Eine seiner Federn löste sich und wirbelte davon. Die Ränder fingen glühende Funken auf, knisterten und die Feder verpuffte in einem kurzen Aufflammen.
Mirjam presste ihre Oberschenkel um sein Becken und bedeckte sein Gesicht mit Küssen. Wenn er bloß wüsste, wie lange sie sich danach gesehnt hatte! Ihn zu berühren, ihn zu küssen und ihn zu fühlen.
Er sog Luft ein. „Mirjam, wenn du so weiter machst …“
„Entweder mache ich so weiter oder du lässt mich fallen.“ Wovor fürchtete er sich? Was konnte schon passieren. „Ich will dich.“ Sie schmiegte sich an ihn und vergrub ihre Finger in seinem Haar. „Du willst es doch auch. Ich kann es spüren.“
„Gib mich auf, Mirjam, bitte! Du hast keine Ahnung, was du dir wünschst.“
„Oh doch. Ich will dich und nur das zählt.“
Seine Arme umschlossen sie noch enger. „Dein Wille geschehe.“
Er faltete die Flügel zusammen und stürzte in die Tiefe. Mirjam gab sich dem Fall hin, während durch ihren Kopf Geigenklänge streiften. Die Musik erfasste ihr Wesen. Rosenblätter rieselten auf sie herab, küssten ihre Haut. Max’ Hände streichelten ihren Rücken und brachten etwas in ihr zum Vibrieren, als wäre es Mirjam, die aus Saiten bestand. Sie wirbelte mit den Blüten davon, in diesem Rausch aus Samt, aufgelöst in sanften Tonwellen. Nur, warum klang die Musik so traurig? Warum weinte die
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