Staub zu Staub
der Luft schwebte der Geruch von Blut, Gas und Zigarettenrauch. Blindlings taumelte sie vorwärts und stolperte über etwas Weiches.
„Herr Steiner!“ Er krümmte sich wimmernd, eine Gesichtshälfte in den Boden gedrückt, und blinzelte mit seinem gesunden Auge. „Herr Steiner, kommen Sie, ich helfe Ihnen!“
Sie trat auf etwas Glitschiges. Es zerplatzte und trübe Flüssigkeit spritzte unter ihrer Schuhsohle hervor. Helmuts Auge. Mirjam presste sich die Hand gegen den Mund.
Der Alte wandte Mirjam das Gesicht mit der blutigen Höhle zu. „Weg … hier … Ihre Freundin ist …“
Schluchzend floh Mirjam durch die Küche in den Flur. Auf der Zunge schmeckte sie einen bitteren Belag, das Säuerliche begann wieder ihren Rachen hochzusteigen und diesmal erbrach sie sich. Kraftlos lehnte sie sich gegen die Wand. Neue Krämpfe schüttelten ihr Inneres, doch ihr Magen gab nichts mehr her. An der Wand taumelte sie den Korridor entlang.
„Kristin?“ Sie öffnete jede Tür und rief nach ihr, auch wenn ihre wunde Kehle bloß ein Krächzen von sich gab. Wie sollte sie Kristin in diesem riesigen Haus finden? Der Typ hatte Recht. Es war hirnrissig, hierher zu kommen. Sie sackte auf den Boden. Mach dir nichts vor, Mirjam. Gib auf. Schließ die Augen. Und warte, bis alles vorbei ist. War das nicht ein guter Plan?
Mirjam …
Ein Flüstern. „Kristin? Bist du das?“
Geh in den Keller
…
Nein, das Flüstern gehörte nicht Kristin. Hinter der nächsten Tür fand sie eine steile Holztreppe und stieg vorsichtig in die Dunkelheit. „Kristin, bist du hier?“ Sie bog um die Ecke und durch einen Werkzeugraum, vorbei an einem Tisch mit Instrumenten und einer Drechselbank. Durch eine weitere Tür gelangte sie in eine Abstellkammer. Zwischen gestapelten Kisten hockte Kristin. Mirjam eilte zu ihr.
„Hey, ich bin’s. Es wird alles gut.“
„Mirjam? Was geht hier vor? Ich habe einen Schuss gehört und Helmut sagte, ich soll mich im Keller verstecken. Und später hörte ich Schreie und …“
Mirjam ergriff ihre Hände. „Sie haben etwas mit dem Gasherd gemacht, ich denke, er wird gleich explodieren.“
Sie half Kirstin hoch. Das Flüstern rauschte durch ihren Kopf wie Wind, der durch Baumzweige fegt.
Dafür habt ihr keine Zeit. Die Anderen sind noch in der Nähe des Hauses. Sie warten
.
Kristin rüttelte an ihrem Ärmel. „Komm schon, beeil dich.“
Sie legte den Zeigefinger an ihre Lippen. „Scht.“
Versteckt euch hier
.
Eine so vertraute Stimme. War sie verrückt geworden? Propheten der Thora erlangten Visionen. Konnte sie etwa auch mit Toten sprechen? Zuerst der Kerl aus der Gasse, der in ihrem Kopf spukte, jetzt …
„Mirjam!“ Kristin schüttelte sie an den Schultern. „Komm endlich!“
„Nein.“ Sie befreite sich aus dem Griff. „Wir bleiben hier.“ In Gedanken fügte sie hinzu: Bist du dir sicher?
„Das ist doch bescheuert!“, rief Kristin. „Mach keinen Quatsch!“
Bei einer unkontrollierten Erdgasverbrennung breitet sich die Expansion nach oben und zu den Seiten aus
.
„Was?“
„Wir müssen raus hier!“, schrie Kristin sie an. „Ich habe keine Lust …“
„Halt endlich den Mund, sonst höre ich ihn nicht!“ Mirjam stieß sie von sich.
Vertrau mir. Hier bist du sicher
.
Jedes Mal fühlte es sich so an, als öffne jemand eine Tür und ein frostiger Luftzug fege herein. Sie rieb sich über die Oberarme. „Also, wir müssen hier bleiben, weil bei einer unkontrollierten Erdgasverbrennung – ähm – da passiert also … Es ist zu kompliziert, um es zu erklären. Wie gesagt, wir bleiben hier.“
Mirjam ließ sich an der Wand nieder. Kristin sank neben ihr auf den Boden. „Naja, was kann uns schon passieren. Ich kenne nämlich einen Kerl, von dem gesagt wird, er sei Christus.“
Mirjam kuschelte sich an sie und hörte dem dumpfen Herzschlag zu. „Ich hab dich wirklich gern.“
„Ich dich auch, Zwergmaus. Was kommt bei den Juden eigentlich so nach dem Tod?“
Die Bezeichnung ‚bei den Juden’ hörte sich irgendwie abwertend an, aber Mirjam beließ es dabei. „In den meisten Fällen eine Beerdigung.“ Sie schloss die Augen und träumte sich auf die kleine Schneeinsel mit den hebräischen Buchstaben.
Diesmal würde sie das Wort ‚Chochmah’ richtig zusammensetzen. Ganz be-stimmt.
Kapitel 19
Mirjam stöhnte. Ihr Kopf dröhnte und die Wucht des Knalls hallte in ihren Ohren nach. Eine Weile wusste sie nicht, wo oben oder unten war. Ihr ganzer Körper schmerzte. Ob etwas
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