Staub zu Staub
umarmen, doch Mirjam stieß sie von sich. „Lass mich in Ruhe!“ Ihre Nase lief. Sie heulte, immer heftiger, ihre Faust fühlte sich taub an vom Hämmern gegen das Blech. „Ihr versteht das alles nicht! Er ist euch egal, was? Mir aber nicht! Ich will ihn zurück, er hätte nicht sterben dürfen! Nicht heute!“
Der Typ vergrub die Finger in seinem Haar. „Ich wollte es nicht. Du warst dabei, du hast alles gesehen. Es war … Es war Gottes Wille.“
„Das ist mir egal!“, brüllte Mirjam. Ihre Worte kehrten einem Bumerang ähnlich zurück. Was hatte sie da bloß gesagt? Sie fuhr herum.
„Hey!“, rief Kristin ihr hinterher. „Wo willst du hin?“
Mirjam rannte, so schnell sie konnte an den Scheunen vorbei, weiter um das brennende Haus. Durch die Tränen sah sie kaum den Weg, stolperte, fiel, sprang wieder auf die Beine und lief weiter.
Die Explosion hatte den Schutt weit verstreut, so entdeckte Mirjam Max nicht sofort. Der Wind wehte Rauch und Asche über ihn. Daneben hatte sich das Foto seiner Mutter im Gras verfangen. Weinend fiel Mirjam auf die Knie. Tränen rollten heiß über ihre Wangen und tropften auf sein blasses Gesicht. Sein toter Blick starrte durch sie hindurch.
Kristin war ihr gefolgt. „Mirjam. Wir können ihn nicht mitnehmen. Willst du auf die Polizei und die Feuerwehr warten? Ich weiß nicht, wo dieser Friedmann überall seine Leute hat, aber wenn sogar Schöbel …“
„Ich gehe nirgendwohin. Nicht ohne ihn.“
„Du kannst nichts mehr für ihn tun.“ Kristin fuhr Max über das Gesicht, um ihm die Lider zu schließen. Mitten in der Bewegung erstarrte ihre Hand. „Wie lange ist er schon tot?“
Weinend brach Mirjam über ihm zusammen.
„Ein Stunde“, hörte sie den Typen sagen. „Schätze ich.“
„Seltsam.“ Kristin schob sie an den Schultern aus dem Weg. „Lass mich ihn ansehen. Okay? Ich werde ihm nichts Böses tun. Versprochen.“
Mirjam wischte sich über die Wangen, obwohl neue Tränen sofort hinterherliefen. Kristins Finger tasteten nach seiner Schlagader, sie legte ihr Ohr an seine Brust. Schließlich löste sie sich von ihm, drehte Max auf die Seite und zog ihm das Jackett mit dem Hemd von den Schultern. Aufmerksam betrachtete sie seinen Rücken, bis sich ihre Stirnfalten vertieften.
„Wirklich seltsam.“
„Was ist seltsam?“, stotterte Mirjam.
„Er scheint Hyperthermie zu haben. Nur haben Tote kein Fieber. Was er allerdings haben müsste, sind Totenflecke. Diese werden spätestens nach einer halben Stunde sichtbar. Er hat keine.“
„Dann ist er nicht tot?“ Wie sehr wünschte sie sich, etwas würde ihr Hoffnung geben. Irgendetwas, egal wie unwahrscheinlich.
„Doch. Eigentlich schon. Er hat einen Kreislaufstillstand. Abgesehen davon – wie sagt man es noch mal? – seine Verletzung ist nicht mit Leben vereinbar. Das sehe sogar ich.“
Der Kerl knetete seine Hände, als wüsste er nicht, wohin damit. „Vielleicht sollten wir es trotzdem mit Wiederbelebung versuchen? Vielleicht …“
Kristin zog die Augenbrauen zusammen. „Nach einer Stunde? Daran hättet ihr früher denken sollen.“
Mirjam schluchzte und streichelte Max’ Gesicht, während die Worte der Thora in ihren Kopf eindrangen:
Da stieg Nebel von der Erde auf und tränkte die ganze Fläche des Erdreichs. Und der Ewige bildete den Menschen aus Staub und Erdreich und blies in seine Nase den Odem des Lebens; so ward der Mensch zu einem lebenden Wesen
.
„Und blies in seine Nase den Odem des Lebens.“ Sie legte ihre Hände um seinen Kopf und drückte ihre Stirn an die seine. „Ich muss total verrückt sein“, flüsterte sie. Andererseits: Warum kam diese Stelle der Heiligen Schrift gerade jetzt in ihr hoch, warum klangen die Worte so klar, so intensiv? „Absolut verrückt.“ Sie holte tief Luft, presste ihre Lippen auf seinen Mund und pustete ihren Atem in seine Lunge.
Sie schwebte. Losgelöst von allem, strebte sie durch die Dämmerung zum Sonnenlicht hinauf, suchte nach dem Teil von ihr, der ihr entrissen wurde. Die letzten Strahlen streiften die Waldspitzen und verschwanden hinter den Bäumen.
Glut durchströmte ihr Inneres, brodelte in ihr auf und breitete sich bis zu den Fingerspitzen aus. Etwas saugte die Luft aus ihrer Lunge. Sie bemühte sich um einen Atemzug, wenigstens um einen! In ihrem Kopf rauschte Blut und pochte in den Schläfen. Sie erstickte.
Von den Feldern stieg Nebel auf. Alle Geräusche rückten in die Ferne und sie glitt davon, seltsam befriedigt und im
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