Staub zu Staub
gebrochen war oder gar fehlte, vermochte sie nicht zu beurteilen. Aber sie lebte und das bedeutete: keine Schneeinsel, kein Max.
Nässe auf dem Boden hatte ihre Kleidung durchdrungen und ließ den Stoff an der Haut kleben. Sie lag in einer Pfütze. Kein Blut, stellte sie erleichtert fest, nachdem sie die Konsistenz mit den Fingern abgetastet hatte. Vermutlich wurden Kisten mit Saft und Mineralwasser beschädigt.
Langsam, um die Schmerzladungen in ihrem Schädel nicht zur Explosion zu provozieren, drehte sie den Kopf. Wenige Zentimetern über ihr ragte ein Balken hervor. Sie versuchte, ihre Arme und Beine zu bewegen. Staub rieselte herab, juckte in den Augen und kitzelte ihre Nase. Sie nieste. Der Balken knirschte, rutschte ein Stück näher und raubte ihr das letzte Quäntchen Bewegungsfreiheit. Sie spürte Druck auf ihren Beinen und dem Bauch. Wieso hatten die Trümmer sie nicht erschlagen? Wieso musste sie hier sterben, unfähig sich zu rühren?
Schwach kratzten fremde Fingernägel an ihrem Arm. „Mirjam? Bist du da? Ist alles okay?“
Kristin! Was für ein Glück, sie lebte noch! „Scheint so. Und du?“
„Ich kann mich kaum bewegen. Aber unser Schutzengel hat gute Arbeit geleistet.“
Ihre Gedanken schweiften zu Helmut Steiner. Er hatte es nicht geschafft. Nein, falsch. Sie war es, die ihn zurückgelassen und dem Tode geweiht hatte.
Wer ohne Sünde ist …
Schuld. Schwer lastete sie auf ihr. War es das, was den Typen quälte und ihn dazu veranlasste, bei ihr nach Vergebung zu suchen? War es ihre Strafe, mit dem Mörder zu fühlen?
Kristin keuchte und versuchte anscheinend sich zu befreien. Der Balken über Mirjam knirschte an der Wand entlang, drückte bedenklich auf ihre Brust.
„Stopp, du zerquetschst mich gleich.“
Die Worte gingen in einem Krachen unter. In der Nähe knisterte es, der Keller füllte sich langsam mit Rauch. Kristin hustete.
„Unser Schutzengel soll sich wieder an die Arbeit machen. Nach Möglichkeit bevor wir hier verbrennen oder ersticken.“
„Scht!“ Mirjam lauschte. Nein, sie hatte sich nicht verhört. Jemand stolperte über Bruchstücke und unter den Schritten knirschten Glas und Schutt. Schöbel? Eingeschlossen unter den Trümmern war sie ihm ausgeliefert.
„Max?“, wimmerte Kristin. „Max! Hilf uns!“
Der Klang seines Namens stach wie eine Nadel in ihre Brust. „Nein, sei ruhig. Wir wissen nicht, wer das ist.“
Die Schritte bewegten sich in ihre Richtung. Kristin stöhnte. „Hallo? Ist da jemand? Hilfe!“
„Sei still.“ Mirjam reckte den Hals um ein Loch zu erhaschen, durch das sie etwas sehen konnte.
„Haltet durch. Ich werde euch befreien.“ Sie erkannte den hustenden Typen. Wieso musste ausgerechnet er den Retter spielen?
Er begann die Teile zur Seite zu schaufeln, keuchte und prustete vor Anstrengung. Bald wurde sein Atem gehetzter und die Pausen beim Wegräumen länger. Sie kniff die Augen und den Mund zusammen. Staub und Putz rieselten auf ihr Gesicht. Der Druck auf ihre Beine minderte sich. Der Typ stemmte eine große Holzplatte zur Seite und Mirjam kroch unter dem Balken hervor.
„Ist alles noch dran?“ Er streckte ihr die Hand entgegen.
Mirjam schlug seinen Arm zur Seite. „Fass mich nicht an. Hier liegen eine Menge Steine, mit denen ich deinen Schädel einschlagen könnte.“ Sie wollte sich aufrichten, doch Schmerz durchzuckte ihren Körper. Japsend taumelte sie rückwärts. Spitze Steine piekten in ihren Rücken.
Der Typ wischte sich mit dem Ärmel unter der Nase. „Ein Danke hätte auch gereicht.“ Einen Moment ruhte er sich aus, dann begann er, auch Kristin zu befreien.
Durch die eingebrochene Decke drang Rauch in den Keller und verschleierte alles mit einem blauen Dunst. Mirjam hustete und bemühte sich, das Stechen in ihrem Brustkorb zu ignorieren. „Wo sind Schöbel und der andere Kerl?“
„Ich habe sie überzeugt, wegzufahren. Sie hatten eh keinen Bock, länger hier zu bleiben.“ Mit beiden Armen umschloss er einen dicken Balken, zerrte daran und hob ihn an. Das Gewicht ließ ihn taumeln, er strauchelte und fiel mit seiner Last auf die Seite.
Kristin warf eine zerquetsche Saftkiste von sich und rappelte sich auf, zuerst auf allen Vieren, dann erhob sie sich schnaufend und schwankend. Im rechten Ärmel ihrer Bluse klaffte ein Loch, einige Knöpfe waren abgerissen und aus dem Ausschnitt lugte die Spitze ihres BHs. Sie betrachtete einen Stoffriss an ihrem Knie. Die Wunde blutete leicht. „Das waren sauteure Klamotten.
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