Staub zu Staub
jetzt muss ich pinkeln.“
Mirjam sah ihm nach, bis er hinter der Tür verschwand. „Du willst ihn heilen? Nach all dem, was er getan hat?“
Max senkte ebenfalls die Stimme. „Ich habe keine Ahnung, wie ich das anstellen soll. Wenn es durch Handauflegen geht, dann habe ich die Bedienungsanleitung verlegt. Aber das sollte er lieber noch nicht erfahren.“
„Es ist unmöglich, die Thora zu entschlüsseln, das kann keiner.“ Mirjam setzte sich auf den Bettrand. Am liebsten hätte sie sich gleich zusammengerollt und wäre eingeschlafen. Sie legte sich hin, breitete ihre Arme aus und musterte den kleinen Kronleuchter an der Decke. „Es ist sogar verboten, das ganze Geheimnis der Kabbala zu entlocken.“
„Ich kenne diesen Rabbi.“
Nicht nur du, lag ihr auf der Zunge. Es erfüllte sie mit Stolz, auch einmal mit ihrem Wissen glänzen zu können. „Ich weiß, er war einer der klügsten Menschen seiner Zeit, aber …“
„Ich habe mit ihm gesprochen.“
Sie schnellte hoch, worauf ihre Wirbelsäule sich mit Schmerzen meldete. „Du hast was? Wann? Wie?“
„Ich musste ihm eine Botschaft übermitteln.“
„Dass er schon seit etwa 250 Jahren tot ist, ist dir bekannt?“
„Ich weiß, wie das klingt. Aber sollte er die Thora tatsächlich entschlüsselt haben, ist das ein Problem. Sie darf nicht in die falschen Hände geraten. Kannst du dir vorstellen, was Menschen mit so einer Quelle des Wissens anstellen würden?“
„Es … es ist jetzt ein wenig zu viel für mich.“ Mirjam schaute zu Kristin, die ohne sich zu bewegen im Türrahmen stand. Doch in dem blassen und wie versteinerten Gesicht fand sie keine Hilfe. „Ich denke, wir sind heute alle müde und müssen uns darüber unterhalten, wenn wir klare Gedanken haben.“
„Weißt du noch, ich habe dir erzählt, ich hätte mit dem Geigenspiel angefangen, weil ich mein Leben füllen wollte? Weil ich das Gefühl hatte, etwas Wichtiges, etwas wie einen Auftrag, vergessen zu haben. Vielleicht ist das mein Auftrag, vielleicht bin ich deshalb hier. Aber du hast Recht.“ Er reichte ihr und Kristin die Schlüsselkarten zu ihren Zimmern. „Es war ein schwerer Tag und wir brauchen Schlaf. Hoffentlich kriege ich über Nacht Ordnung in meinen Kopf. Dann sehen wir weiter.“
Wie auf ein Stichwort entriss Kristin ihm die Karte und ging. Mirjam lief ihr hinterher.
„Warte!“
Doch Kristin verschwand schon hinter der Tür.
Kapitel 21
Die glühende Erde verbrannte ihre Füße, der rissige Boden erstreckte sich bis zu den Bergen am Horizont, die in den blauen Himmel ragten. Durch die flirrende Luft brannte die Sonne ihren Zorn danieder. Mirjam wischte sich das Haar aus dem Gesicht und drehte sich um. Vor ihr stand ein Lamm mit silbernem Fell und Augen, die schwarzen Löchern ähnelten.
„Wo kommst du denn her, Kleiner?“ Sie streckte ihm die Hand entgegen. Es blökte. Ein Schimmern wob einen Schleier um das Lamm, verdeckte das Tierchen, bis an seiner Stelle eine dunkle Figur erschien, Mirjam den Rücken zugewandt. „Max, bist du es?“ Auf Zehenspitzen tänzelte sie auf dem Platz, um der Boden-hitze zu entkommen. „Was geschieht hier? Wo sind wir?“ Eine Böe wirbelte Staub hoch und sie spürte Salz auf den Lippen.
„In einer Wüste.“ Seine Stimme klang dunkel. „Schmeckst du die Tränen der Unschuldigen?“
„Du machst mir Angst. Warum sind wir hier?“
„Ich wollte einer Versuchung widerstehen.“
„Und? Hast du?“
„Nicht dieses Mal.“
Die unerträgliche Hitze drückte Mirjam nieder, es kam ihr vor, als atme sie Lava. Ihre Haare klebten an ihrem Hals, Schweiß strömte ihr den Rücken hinab. „Max? Mir gefällt es hier nicht. Bring uns fort.“ Er reagierte nicht. „Max, bitte!“
„Ich sollte meinem Herrn dienen. Nur ihm allein.“ Ruckartig fuhr er herum und in seinen Augen brach Feuer aus. Mirjam schrie, taumelte zurück und fiel. Der Boden schürfte ihre Haut ab, das Salz brannte in den Wunden. Eine Böe fegte Staub über ihren nackten Körper. Schwarze Wolken wallten über den Himmel. Mirjam konnte sich kaum bewegen, nicht einmal fortkriechen.
„Max, was hast du?“
„Ein Stück deiner Seele. Du hast mich entfesselt.“ Die flammenden Augen lachten sie aus. „Du hast mich mit deiner Sünde verbrannt.“
Mirjam wimmerte und senkte die Lider. „Ich verstehe nicht, was du meinst.“
„Sieh mich an.“ Das konnte sie nicht. Beim besten Willen, das konnte sie nicht. „Sieh - mich - an!“ Das Grollen erschütterte sie bis ins
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