Staub
aufgebrachten Familienangehörigen sind keine Seltenheit, führen jedoch kaum jemals dazu, dass ein hochrangiges Regierungsmitglied die Hinzuziehung eines Experten von außen verlangt.
»Kay, ich kann verstehen, wie unangenehm das alles für Sie sein muss«, sagt Dr. Marcus. »Auch ich wäre nicht gern in Ihrer Situation.«
»In welcher Situation bin ich Ihrer Meinung nach, Dr. Marcus?«
»Es ist nie einfach, zurückzukommen. Sie haben Mut. Das muss ich Ihnen lassen. Ich glaube, ich wäre nicht so großzügig gewesen, wenn ich mich von meinem früheren Arbeitgeber ungerecht behandelt gefühlt hätte. Also kann ich gut verstehen, dass Sie so empfinden.«
»Es geht nicht um mich«, erwidert sie. »Sondern um eine tote Vierzehnjährige. Und um Ihre Behörde – ja, eine Behörde, die mir gut vertraut ist, aber …«
Er fällt ihr ins Wort. »Sie haben eine sehr abgeklärte Haltung …«
»Lassen Sie mich das Offensichtliche feststellen«, unterbricht sie ihn. »Wenn ein Kind stirbt, schreibt ein Bundesgesetz vor, dass dieser Todesfall eingehend untersucht wird, um nicht nur Ursache und Art des Todes zu ermitteln, sondern auch, ob der Fall im Zusammenhang mit anderen, ähnlich gelagerten Ereignissen steht. Sollte sich herausstellen, dass Gilly Paulsson ermordet wurde, wird man jeden Winkel Ihrer Behörde gründlich unter die Lupe nehmen und sämtliche Details ans Licht der Öffentlichkeit zerren. Außerdem wäre ich Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mich in Gegenwart Ihrer Mitarbeiter und Kollegen nicht Kay nennen würden. Eigentlich wäre es mir das Liebste, wenn Sie das überhaupt ließen.«
»Vermutlich möchte der Gesundheitsminister Schadensbegrenzung betreiben«, sagt Dr. Marcus, als wäre ihre Bitte, sie nicht Kay zu nennen, nie ausgesprochen worden.
»Ich bin nicht bereit, mich an einer wie auch immer gearteten Show für die Medien zu beteiligen«, stellt sie klar. »Als Sie gestern anriefen, war ich damit einverstanden, zu tun, was ich kann, um herauszufinden, was Gilly Paulsson zugestoßen ist. Und das ist unmöglich, wenn Sie nicht absolut offen zu mir und den Menschen sind, die ich zu meiner Unterstützung mitbringe. Und in diesem Fall ist das Pete Marino.«
»Offen gesagt dachte ich nicht, dass Sie große Lust haben, einer Mitarbeitersitzung beizuwohnen.« Wieder schaut er auf die Uhr, eine alte Armbanduhr mit einem schmalen Lederarmband. »Aber wie Sie wollen. Bei uns gibt es keine Geheimnisse. Später gehe ich mit Ihnen den Fall Paulsson durch. Wenn Sie möchten, können Sie sie noch einmal obduzieren.«
Als er Scarpetta die Tür der Bibliothek aufhält, starrt sie ihn ungläubig an.
»Ihre Leiche wurde noch nicht an die Familie freigegeben, obwohl sie schon zwei Wochen tot ist?«, fragt sie.
»Angeblich stehen sie zu sehr unter Schock, um die nötigen Schritte einzuleiten«, erwidert er. »Vielleicht hoffen sie auch einfach, dass wir die Beerdigung bezahlen.«
4
Im Konferenzraum der Gerichtsmedizin zieht sich Scarpetta einen Stuhl am Fußende des Tisches heran.
Marino holt sich einen Stuhl, der an der Wand steht, und platziert ihn neben ihrem. Er beugt sich zu ihr hinüber. »Die Mitarbeiter hassen ihn wie die Pest«, flüstert er.
Sie antwortet nicht und nimmt an, dass Julie, die Sekretärin, die Quelle für diese Information ist. Dann kritzelt er etwas auf einen Block und schiebt ihn ihr hin. »FBI eingeschaltet«, liest sie.
Offenbar hat Marino herumtelefoniert, während Scarpetta mit Dr. Marcus in der Bibliothek war. Sie ist verblüfft, denn Gilly Paulssons Tod fällt eigentlich nicht unter den Zuständigkeitsbereich des FBI. Im Augenblick wird noch nicht einmal von einem Verbrechen ausgegangen, da weder eine Todesursache noch eine Todesart bekannt ist. Als sie den Notizblock dezent zu Marino zurückschiebt, spürt sie, dass Dr. Marcus sie beide beobachtet. Kurz fühlt sie sich wie in ihrer Schulzeit, als sie heimlich Zettel weitergereicht hat und dafür von den Nonnen zurechtgewiesen wurde. Marino wagt es tatsächlich, eine Zigarette herauszuholen und damit auf den Notizblock zu klopfen.
»Ich fürchte, in diesem Gebäude ist das Rauchen verboten«, durchschneidet Dr. Marcus’ befehlsgewohnte Stimme die Stille.
»Und das ist auch gut so«, gibt Marino zurück. »Passivrauchen kann nämlich tödlich sein.«
Aus Dr. Marcus’ Mitarbeiterstab kennt Scarpetta niemanden – mit Ausnahme seines Stellvertreters Jack Fielding, der ihrem Blick bis jetzt ausgewichen ist und seit ihrer letzten
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