Staub
starren ihn einfach nur an.
»Kommen Sie«, drängt er mit einem Lächeln. »Sagen wir mal, ich hätte gerade so einen Anruf erhalten, Dr. Ramie.«
»Sir?« Wieder errötet sie.
»Los, erklären Sie mir, wie ich mich verhalten soll, Dr. Ramie.«
»So wie bei einem Tod auf dem Operationstisch?«, mutmaßt sie, als hätte eine außerirdische Macht sie soeben ihrer jahrelangen medizinischen Ausbildung beraubt.
»Sonst noch jemand?«, fragt Dr. Marcus. »Dr. Scarpetta?« Er spricht ihren Namen betont langsam aus, als wolle er hervorheben, dass er sie nicht mehr Kay nennt. »Hatten Sie je so einen Fall?«
»Leider ja«, antwortet sie.
»Dann verraten Sie uns doch bitte, wie er juristisch aussieht«, fordert er sie scheinbar freundlich auf.
»Eine Schwangere zu verprügeln ist ganz eindeutig eine Straftat«, erwidert sie. »Und deshalb würde ich auf dem Formular CME-1 den Tod dieses Fötus als Tötungsdelikt bezeichnen.«
»Interessant.« Dr. Marcus sieht sich am Tisch um und feuert dann den nächsten Schuss auf sie ab. »In Ihrem Anfangsbericht würde also Tötungsdelikt stehen. Wäre das nicht ein wenig kühn? Schließlich ist es Aufgabe der Polizei und nicht unsere, festzustellen, ob Vorsatz vorliegt.«
Hinterhältiger Mistkerl, denkt sie. »Dem Gesetz nach ist es unsere Aufgabe, Ursache und Art des Todes zu bestimmen«, entgegnet sie. »Wie Sie sich möglicherweise erinnern, wurde dieser Paragraph in den späten Neunzigern geändert, nachdem ein Mann einer Frau in den Bauch geschossen hatte. Sie überlebte, aber ihr ungeborenes Kind starb. In dem Szenario, das Sie uns eben geschildert haben, Dr. Marcus, würde ich vorschlagen, dass Sie den Fötus herbringen lassen. Obduzieren Sie ihn, und geben Sie ihm eine Fallnummer. Auf dem Totenschein mit dem gelben Rand gibt es keine Zeile für Todesart, weshalb Sie unter die Rubrik Todesursache eintragen müssen: Tod des Fötus im Mutterleib in Folge eines Übergriffs auf die Mutter. Sie müssen einen Totenschein mit gelbem Rand nehmen, da der Fötus ja nicht geboren wurde. Heften Sie der Fallakte eine Kopie bei, da der Totenschein in einem Jahr, wenn das Amt für Statistik seine Daten komplettiert hat, nicht mehr existieren wird.«
»Und was machen wir mit dem Fötus?«, fragt Dr. Marcus, nun nicht mehr so freundlich.
»Das hängt von der Familie ab.«
»Er ist nicht einmal zehn Zentimeter groß. Das reicht nicht für eine Beerdigung.«
»Dann legen Sie ihn in Formalin ein. Geben Sie ihn der Familie, und lassen Sie sie selbst entscheiden.«
»Und ich soll es als Tötungsdelikt bezeichnen«, sagt er kühl.
»So will es das neue Gesetz«, erinnert sie ihn. »In Virginia ist ein Angriff in der Absicht, Familienmitglieder, ob nun geboren oder nicht, zu töten, ein Kapitalverbrechen. Selbst wenn Sie den Vorsatz nicht nachweisen können und die Anklage schließlich auf Körperverletzung zum Schaden der Mutter lautet, steht darauf dieselbe Strafe wie auf Mord. Beim Weg durch die Instanzen wird dann irgendwann Totschlag oder Ähnliches daraus. Der springende Punkt ist, dass kein Vorsatz vorliegen muss. Der Fötus muss nicht einmal lebensfähig gewesen sein. Es hat in jedem Fall ein Gewaltverbrechen stattgefunden.«
»Irgendwelche Einwände?«, fragt Dr. Marcus seine Mitarbeiter. »Keine Anmerkungen?«
Niemand antwortet, nicht einmal Fielding.
»Dann versuchen wir es mit einem anderen Fall«, verkündet Dr. Marcus mit einem verkniffenen Lächeln.
Nur zu, denkt Scarpetta. Mach schon, du mieser Hund.
»Ein junger Mann liegt in einem Hospiz«, beginnt Dr. Marcus. »Er wird an AIDS sterben und bittet den Arzt, den Stecker zu ziehen. Als dieser die lebenserhaltenden Maschinen abschaltet, stirbt der Patient. Ist das ein Fall für die Gerichtsmedizin oder nicht? Handelt es sich um ein Tötungsdelikt? Warum fragen wir nicht wieder unsere Gastexpertin? Hat der Arzt ein Tötungsdelikt begangen?«
»Es ist ein natürlicher Tod, solange der Arzt dem Patienten keine Kugel in den Kopf jagt«, erwidert Scarpetta.
»Aha. Dann sind Sie also eine Befürworterin der Euthanasie.«
»Zustimmung im Vollbesitz der geistigen Kräfte ist ein sehr schwammiger Begriff.« Sie geht nicht auf seine alberne Anschuldigung ein. »Häufig leidet der Patient an Depressionen, und jemand in diesem Zustand kann keine Entscheidung im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte fällen. Es ist eher eine gesellschaftliche Frage.«
»Darf ich Ihre Ausführungen erläutern?«, sagt Dr. Marcus.
»Ich bitte
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