Staub
oberen rechten Ecke steht ein Datum. Benton reibt mit der Hand über sein kantiges Kinn, und ihm fällt ein, dass er sich seit zwei Tagen nicht rasiert hat. Seine rauen, grauen Bartstoppeln erinnern ihn an die Nadelbäume auf den Bergen. Mit einem Stift zieht er einen Kreis um die Wörter »gemeinsame Paranoia«, hebt den Kopf und späht durch die Lesebrille auf seiner geraden, spitzen Nase.
»Scheint glaubhaft, wenn die Lücken gefüllt sind«, kritzelt er an den Rand. »Ernsthafte Lücken. Ohne Bestand. L. ist das wahre Opfer, nicht H. H. ist narzisstisch.« Er unterstreicht »narzisstisch« dreimal. Dann schreibt er »launenhaft« und unterstreicht es zweimal. Anschließend blättert er zu einer anderen Seite, die die Überschrift »Verhalten nach der Tat« trägt, und horcht auf das Rauschen von fließendem Wasser, erstaunt, dass er es noch nicht wahrgenommen hat. »Kritischer Punkt. Wird höchstens bis Weihnachten durchhalten. Spannung unerträglich. Wird noch vor Weihnachten töten, wenn nicht früher«, schreibt er und blickt wortlos auf, denn er spürt ihre Gegenwart, bevor er sie gehört hat.
»Wer war das?«, fragt Henri. Sie steht oben an der Treppe, ihre zierliche Hand ruht auf dem Geländer. Henrietta Waiden schaut Benton quer durchs Wohnzimmer an.
»Guten Morgen«, sagt er. »Normalerweise duschst du doch immer. Der Kaffee ist fertig.«
Henri zieht den schlichten roten Morgenmantel aus Flanell fester um ihren schlanken Körper zusammen. Aus müden, undurchdringlichen grünen Augen betrachtet sie Benton und mustert ihn, als ob eine Meinungsverschiedenheit oder eine Konfrontation zwischen ihnen bestünde. Sie ist achtundzwanzig Jahre alt und auf eine aparte Art attraktiv. Ihre Gesichtszüge sind nicht vollkommen, da ihre Nase kräftig und – nach ihrer eigenen verzerrten Wahrnehmung – zu groß ist. Auch sind ihre Zähne nicht perfekt, und im Moment könnte nichts sie davon überzeugen, dass sie trotzdem ein wunderschönes Lächeln hat und auf verwirrende Weise verführerisch ist, auch wenn sie nicht versucht, es zu sein. Benton hat nichts getan, um diese Überzeugungsarbeit zu leisten. Es ist zu gefährlich.
»Ich habe dich mit jemandem reden hören«, fährt sie fort. »War es Lucy?«
»Nein«, erwidert er.
»Oh«, entgegnet sie, während sie vor Enttäuschung ihre Mundwinkel nach unten zieht und Ärger in ihren Augen aufblitzt. »Wer war es dann?«
»Es war ein Privatgespräch, Henri.« Er nimmt die Lesebrille ab. »Wir haben doch schon so oft über Grenzen gesprochen. Jeden Tag führen wir diese Debatte, stimmt’s?«
»Schon gut«, sagt sie vom Treppenabsatz aus, die Hand immer noch auf dem Geländer. »Wenn es nicht Lucy war, wer dann? Ihre Tante? Sie spricht zu viel über ihre Tante.«
»Ihre Tante weiß nicht, dass du hier bist, Henri«, erwidert Benton sehr geduldig. »Das wissen nur Lucy und Rudy.«
»Ich bin über dich und ihre Tante im Bilde.«
»Nur Lucy und Rudy wissen, dass du hier bist«, wiederholt er.
»Dann war es Rudy. Was wollte er? Ich habe schon immer gespürt, dass er mich mag.« Als sie lächelt, ist ihr Gesichtsausdruck seltsam und beunruhigend. »Rudy ist geil. Ich hätte es mit ihm machen sollen. Das hätte ich gekonnt. Als wir im Ferrari unterwegs waren. Ich hätte es mit jedem machen können, als ich den Ferrari hatte. Was nicht heißt, dass ich Lucy brauche, um einen Ferrari zu kriegen.«
»Grenzen, Henri«, sagt Benton. Er weigert sich, den Abgrund des Scheiterns wahrzunehmen, der sich tief und dunkel vor ihm auftut und immer breiter und tiefer wird, seit Lucy Henri nach Aspen gebracht und ihm anvertraut hat.
Du wirst ihr nicht wehtun, hatte Lucy damals zu ihm gemeint. Jemand anderer als du würde sie verletzen und ausnutzen und auf diese Weise etwas über mich und das, was ich tue, herausfinden.
Ich bin kein Psychiater, hatte Benton erwidert.
Sie hat ein posttraumatisches Stresssyndrom und braucht einen Therapeuten. Und das ist dein Job. Du wirst es schaffen. Du kannst herausfinden, was geschehen ist. Wir müssen es wissen, hatte Lucy beharrt. Sie war außer sich, und Lucy geriet sonst niemals in Panik. Doch jetzt war sie nervös. Sie glaubt, dass Benton jeden Menschen entschlüsseln kann. Aber selbst wenn er das könnte, würde das nicht bedeuten, dass allen Menschen zu helfen ist. Henri ist keine Geisel. Sie könnte jederzeit gehen. Und es beunruhigt ihn zutiefst, dass sie offenbar nicht die geringste Absicht dazu hat und die Situation anscheinend
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