Staub
darum.«
»Da liegt also ein Mann im Hospiz und meint: ›Ich glaube, ich möchte heute sterben.‹ Soll sein Hausarzt dieser Bitte entsprechen?«
»Tatsache ist, dass ein Patient in einem Hospiz bereits über diese Möglichkeit verfügt. Er kann beschließen zu sterben«, erwidert sie. »Er kann Morphium gegen die Schmerzen bekommen, wann immer er das wünscht, also bittet er einfach um mehr, schläft ein und stirbt an einer Überdosis. Er kann ein Armband mit der Aufschrift ›Nicht wiederbeleben‹ tragen. Dann müssen die Sanitäter ihn auch nicht zurückholen. Und so stirbt er, wahrscheinlich, ohne dass das für jemanden Konsequenzen hat.«
»Aber hätte es das nicht in unserem Fall?«, beharrt Dr. Marcus. Sein mageres Gesicht ist starr vor Wut, als er sie finster anblickt.
»Menschen liegen in Hospizen, weil sie ohne Schmerzen leben und in Frieden sterben wollen«, antwortet sie. »Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte beschließen, das bereits oben erwähnte Armband zu tragen, wollen im Grunde genommen dasselbe. Eine Überdosis Morphium, das Abschalten lebenserhaltender Maschinen in einem Hospiz, ein Mensch, der ein Armband trägt und nicht wiederbelebt wird. Das sind nicht unsere Themen. Falls man Sie je zu so einem Fall hinzuzieht, Dr. Marcus, hoffe ich, dass Sie ablehnen.«
»Irgendwelche Anmerkungen?«, fragt Dr. Marcus spitz, sucht seine Akten zusammen und schickt sich an zu gehen.
»Ja«, sagt Marino laut. »Haben Sie schon mal daran gedacht, als Moderator bei einer Quizsendung anzufangen?«
5
Benton Wesley geht in seinem Vier-Zimmer-Stadthaus im Aspen Club von Fenster zu Fenster. Der Empfang seines Mobiltelefons ist mal gut und mal weniger gut, sodass Marinos Stimme manchmal deutlich und dann wieder verzerrt klingt.
»Was? Tut mir Leid, das musst du nochmal wiederholen.« Benton geht drei Schritte zurück und bleibt stehen.
»Ich habe gesagt, das ist noch nicht mal die Hälfte. Es sieht viel schlimmer aus, als du gedacht hast.« Marinos Stimme ist jetzt ohne Störung zu verstehen. »Offenbar hat er sie nur gerufen, um sie vor versammelter Mannschaft fertig zu machen. Oder um es zumindest zu versuchen. Mit Betonung auf versuchen .«
Benton starrt aus dem Fenster in den Schnee, der sich in den Astgabeln der Bäume sammelt und auf den gedrungenen Nadeln der schwarzen Fichte liegt. Zum ersten Mal seit Tagen ist der Morgen sonnig und klar, und die Elstern tollen von Ast zu Ast, landen flatternd und stieben dann, kleine weiße Schneewölkchen aufwirbelnd, davon. Ein Teil von Bentons Verstand nimmt diese Vorgänge wahr und versucht, hinter die Gründe zu kommen. Vielleicht lassen sich die gymnastischen Übungen dieser langschwänzigen Vögel ja biologisch erklären. Allerdings spielt das keine Rolle. Seine Grübeleien sind so vorherbestimmt wie das Verhalten der Fauna und so unablässig wie das Gleiten der Seilbahnkabinen bergauf und bergab.
»Versuchen, ja.« Benton schmunzelt ein wenig, als er es sich vorstellt. »Aber du darfst nicht vergessen, dass er sie nicht aus freien Stücken eingeladen hat. Es war eine Anweisung von oben. Der Gesundheitsminister steckt dahinter.«
»Und woher weißt du das?«
»Es hat mich ein Telefonat gekostet, nachdem sie mir erzählt hatte, dass sie hinfährt.«
»Wirklich ein Jammer wegen Asp…« Marinos Stimme bricht ab.
Benton geht zum nächsten Fenster. Hinter ihm im Kamin knistern die Flammen und knackt das Holz. Er starrt weiter durch die vom Boden bis zur Decke reichenden Scheiben. Sein Blick ist auf das Steinhaus gegenüber gerichtet, als sich dort die Eingangstür öffnet. Ein Mann und ein Junge, dem Wetter entsprechend gekleidet, kommen aus dem Haus; der Atem steht ihnen wie eine Dampfwolke vor dem Mund.
»Inzwischen weiß sie, dass sie benutzt wird«, sagt Benton. Er kennt Scarpetta so gut, dass seine Vorhersagen in den meisten Fällen zutreffen. »Leider steckt jedoch noch mehr dahinter, viel mehr. Kannst du mich verstehen?«
Er sieht zu, wie der Mann und der Junge Ski und Stöcke schultern und, unbeholfen in ihren halb offenen Skistiefeln, davontrotten.
»Hm?« Marino sagt das in letzter Zeit häufig, er geht Benton damit auf die Nerven.
»Kannst du mich verstehen?«, fragt Benton.
»Ja, ich höre dich gut«, ist Marino nun wieder zu vernehmen. »Er braucht sie als Sündenbock. Deshalb hat er sie überhaupt hergeholt. Sonst kann ich dir noch nicht viel sagen, ich muss erst mehr in Erfahrung bringen. Über das Mädchen, meine
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