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Staub

Staub

Titel: Staub Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patricia Cornwell
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genießt.
    Benton hat in den vier Tagen, die er inzwischen mit Henri Waiden verbracht hat, eine Menge herausgefunden. Sie leidet an einer Persönlichkeitsstörung, und das war auch schon vor dem Mordversuch so. Ohne die Fotos vom Tatort und ohne den Umstand, dass wirklich jemand in Lucys Haus war, hätte Benton möglicherweise den Verdacht, dass es nie einen Mordversuch gegeben hat. Er befürchtet, dass Henris augenblickliches Verhalten lediglich eine Steigerung ihres früheren ist, und diese Erkenntnis macht ihm schwer zu schaffen. Er kann sich nicht vorstellen, was Lucy sich dabei gedacht hat, Henri abzuschleppen. Wahrscheinlich hat sie gar nicht gedacht, beschließt er. Das ist eine plausible Antwort.
    »Hat Lucy dich ihren Ferrari fahren lassen?«, fragt er.
    »Nicht den schwarzen.«
    »Und den silbernen, Henri?«
    »Die Farbe heißt nicht Silber, sondern California Blue. Den bin ich gefahren, sooft ich wollte.« Sie betrachtet ihn vom Treppenabsatz aus, die Hand auf dem Geländer, das lange Haar zerwühlt und die Augen sinnlich und schläfrig, als posiere sie für eine Erotikaufnahme.
    »Bist du allein gefahren, Henri?« Er möchte auf Nummer sicher gehen. Ein sehr wichtiges fehlendes Stück des Puzzles ist die Frage, wie der Täter überhaupt auf Henri gekommen ist. Benton glaubt nicht an einen Zufall oder an Pech – eine hübsche junge Frau in der falschen Villa oder im falschen Ferrari zum falschen Zeitpunkt.
    »Das habe ich dir doch schon erzählt«, sagt Henri. Ihr Gesicht ist bleich und ausdruckslos. Nur ihre Augen wirken lebendig, und die Energie darin ist wetterwendisch und beängstigend. »An den schwarzen lässt sie niemanden ran.«
    »Wann hast du den blauen Ferrari zum letzten Mal gefahren?«, erkundigt sich Benton in dem sanften, gleichmäßigen Tonfall, den er sich antrainiert hat, um möglichst viele Informationen zu erhalten. Sobald ein Thema zur Sprache kommt, versucht er, ihr das Wissen zu entlocken, bevor es wieder verschwindet. Dabei interessiert ihn weniger Henris Schicksal als die Frage, wer in Lucys Haus war und warum. Lucy ist diejenige, die ihm wirklich etwas bedeutet.
    »In diesem Auto bin ich jemand«, erwidert Henri, und ihre Augen leuchten in ihrem sonst ausdruckslosen Gesicht.
    »Und du hast ihn oft gefahren, Henri.«
    »Immer, wenn ich wollte.« Sie starrt ihn an.
    »Jeden Tag zum Ausbildungslager?«
    »Immer, wenn ich wollte, verdammt.« Ihr gleichgültiges, blasses Gesicht ist auf ihn gerichtet, und ihre Augen funkeln zornig.
    »Kannst du dich an das letzte Mal erinnern, als du den Wagen gefahren hast? Wann war das, Henri?«
    »Keine Ahnung. Bevor ich krank wurde.«
    »Also bevor du die Grippe gekriegt hast. Und wann war das? Vor etwa zwei Wochen?«
    »Ich weiß nicht.« Sie ist störrisch geworden und wird sich jetzt nicht mehr zum Thema Ferrari äußern. Er drängt sie nicht, denn ihr Leugnen und Ausweichen sprechen Bände.
    Benton ist ziemlich gut darin, Schweigen zu interpretieren. Und sie hat gerade gesagt, dass sie den Ferrari gefahren hat, wann immer es ihr gefiel. Außerdem war sie sich dessen bewusst, dass sie damit Aufmerksamkeit erregte, und hatte Spaß daran, weil sie nur glücklich ist, wenn sie im Auge des Sturms steht. Selbst ohne eine Krise muss Henri im Zentrum des Chaos sein und Chaos erzeugen. Sie ist die Hauptdarstellerin in ihrem selbst verfassten wahnwitzigen Drama – ein Grund, warum die meisten Polizisten und forensischen Psychologen schlussfolgern würden, dass sie den Mordversuch an sich selbst nur vorgetäuscht und den Tatort dementsprechend präpariert und dass es nie einen Überfall gegeben hat. Aber es gab einen. Dieses bizarre und gefährliche Drama ist wirklich wahr, und Benton macht sich Sorgen um Lucy. Das tut er zwar schon immer, aber noch nie so sehr wie jetzt.
    »Mit wem hast du telefoniert?«, kehrt Henri zu ihrem ursprünglichen Thema zurück. »Rudy vermisst mich. Ich hätte es mit ihm machen sollen. Ich habe so viel Zeit dort verschwendet.«
    »Fangen wir den Tag damit an, dass wir unsere Grenzen im Blick behalten, Henri«, wiederholt Benton geduldig, was er schon gestern Morgen und vorgestern Morgen gepredigt hat, während er sich auf dem Sofa Notizen machte.
    »Okay«, erwidert sie, immer noch auf dem Treppenabsatz stehend. »Es war Rudy, der da angerufen hat. Ganz bestimmt.«
    6
    Wasser plätschert in Becken, und auf den Leuchttischen liegen Röntgenaufnahmen, als Scarpetta sich dicht über eine Schnittwunde beugt, die dem toten

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