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Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
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wohnte, war ein Gründerzeitbau vom Feinsten mit schmiedeeisernen Balkonen an der Fassade. Winter rechnete an einem Sonntagabend eigentlich nicht damit, Selim zu Hause anzutreffen. Doch er war da, wie ihm eine Frauenstimme mit schwerem türkischem Akzent an der Sprechanlage mitteilte.
    Das Treppenhaus war herrschaftlich, die Decken hoch. Selim selbst erwartete den Besucher an der einzigen Tür des zweiten Stockwerks. Sie musterten sich. Der junge Mann trug jetzt obenherum ein künstlerisch wirkendes türkis-weißes Batikoberteil, das nicht zu dem Bild passte, das Winter sich von ihm gemacht hatte.
    «Ich würde gerne mit Ihnen über Sie und Sara sprechen», begann er.
    «Das ist nicht besonders sinnvoll», sagte Selim in leicht genervtem Ton. «Aber ich will Sara keinen Ärger mit Ihnen machen. Also, kommen Sie rein.»
    Die Wohnung war so repräsentativ, wie Winter es von draußen vermutet hatte, mit weiträumigem, parkettbelegtem Flur und weißgestrichenen Flügeltüren, die in scheinbar zahllose Zimmer führten. An den Wänden im Flur hingen große Original-Ölbilder, alles moderne, mit wilden Strichen gemalte Porträts einer Frau mittleren Alters.
    «Die Bilder sind aber nicht von Ihnen, oder?», fragte Winter spontan.
    «Nein, die sind von meiner Tante», erklärte Selim, «und das Modell ist meine Mutter.»
    Winter warf neugierig einen Blick auf eins der Bilder, bevor er Selim in ein riesiges, aber spartanisch eingerichtetes Zimmer mit drei Fenstern folgte. In einer Ecke lag eine französische Matratze mit Bettzeug direkt auf dem Holzboden, in Fensternähe stand ein Schreibtisch, an einer Wand ein halbvolles Bücherregal Typ Ivar und davor ein paar zusammengewürfelte Sessel plus IKEA-Stehlampe. Das Ganze vermittelte den Eindruck «Studentenzimmer».
    «Sie wohnen hier bei Ihren Eltern?», fragte Winter, der immer weniger verstand. Selim verneinte mit ernstem Blick und bedeutete ihm, sich auf einen der Sessel zu setzen, während er sich ebenfalls niederließ. Statt Winter stellte jetzt Selim selbst provokant eine Frage: «Und? Was ist Ihr Problem mit mir? Dass ich Türke bin?»
    «Um Himmels willen, natürlich nicht», beschwichtigte Winter. «Wir finden Sie bloß etwas zu alt für Sara. Sie ist ja fast noch ein Kind. Und sie hat uns auch praktisch nichts über Sie erzählt. Also haben wir uns Sorgen gemacht.»
    «Verstehe», nickte Selim. «Sara redet wenig. Gerade über wichtige Sachen. Das ist mir auch aufgefallen. Dann kann ich Sie beruhigen und Ihnen sagen, dass das zwischen uns schon vorbei ist.»
    Winter war mehr als überrascht. «Und was hat das dann vorhin bedeutet? Dass Sie mit Rosen bei uns vor der Tür stehen?»
    «Ich wollte mich entschuldigen. Ich hatte mich ihr gegenüber unmöglich benommen, nachdem diese Sache mit dem Jungen passiert war, Sie wissen schon, der ertrunken ist. Und, ja, ich hab Sara gefragt, ob sie mir noch eine Chance gibt. Zuerst hat sie ja gesagt. Später dann draußen – wir waren auf dem Weg hierher – wollte sie plötzlich mit mir in ein Café und noch mal reden. Sie sagte dann, dass sie sich nach allem, was passiert ist, erst mal selbst finden muss. Und dass sie sich nicht selbstbewusst genug fühlt, um mit mir zusammen zu sein. Sie hätte sich mit mir nie richtig wohlgefühlt, weil sie sich unerwachsen und schüchtern vorgekommen sei. Sie sei sich ständig selbst peinlich gewesen. Bloß deshalb sei das auch mit diesem Lenny passiert. Angeblich war es ihr zu peinlich, darauf zu bestehen, einen Notruf abzusetzen.»
    Selim hatte offenbar das Bedürfnis, sein Herz auszuschütten. Winter war zugleich betroffen und erleichtert von dem, was er hörte. «Warum sind Sie eigentlich nicht selbst draufgekommen, Hilfe zu holen?», fragte er. «Ich meine, wenn da jemand von einer Brücke ins Wasser fällt …»
    «Diesen Vorwurf hat mir Sara auch schon gemacht. Aber wissen Sie, ich kannte ja diesen Lenny nicht und auch nicht die ganze Vorgeschichte. Sara vermittelte nicht gerade den Eindruck, dass sie sich um den Jungen Sorgen machte. Und ich hatte natürlich keine Ahnung, dass es an dieser Stelle im Main gefährliche Strömungen gibt. Ich dachte halt, der kann doch schwimmen, was soll’s. Das Wasser sah total ruhig aus. Ich bin selbst schon mal im Main geschwommen.» Er gestikulierte Richtung der Fenster, die zum Fluss gingen.
    «Gut», sagte Winter, «ich verstehe jetzt besser, wie das hat passieren können. Danke, dass Sie so offen sind. Darf ich Sie noch was fragen?»
    Selim

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