Staustufe (German Edition)
zuckte mit den Schultern. Er wirkte jetzt wieder defensiv, als empfinde er die ganze Situation als Zumutung.
«Wie kann sich ein so junger Mann diese Wohnung leisten? Reiche Eltern?»
Selim schien kurz davor zu sagen: Was geht Sie das an? Dann überlegte er es sich offenbar anders. «Das ist eine WG», erklärte er, «wir wohnen hier zu viert. Jeder zahlt achthundert Euro, ich verdien achtzehnhundert in meinem Job, das geht.»
Natürlich. So konnten sich auch Durchschnittsverdiener eine Wohnung von über dreitausend Euro Miete leisten. Jedoch –
«Eine WG? Unten stand aber nur Ihr Name.»
Selim lächelte genervt. «Da spricht der Polizist, was? Meine Mitbewohner sind mein Bruder und zwei Cousinen. Wir heißen alle Okyay mit Nachnamen.» Im selben Moment klopfte es an der Tür. Eine Frau von Ende zwanzig in Mantel und Rucksack erschien und sagte in selbstbewusstem Ton etwas auf Türkisch zu Selim, bevor sie verschwand.
«Meine Cousine aus Ankara», erläuterte Selim. «Ihr Deutsch ist noch nicht so toll, sie ist erst seit einem Jahr hier. Sie macht ihre Doktorarbeit an der TU Darmstadt. Energietechnik.»
Winter schmunzelte. Er hörte heraus, dass Selim verdammt stolz auf seine Cousine war. Das konnte er wohl auch sein. Energietechnik – puh.
«Was machen denn Sie beruflich?», fragte er. Nach Türsteher, wie von Carola vermutet, sah Selim nicht aus. Aber hatte Sara nicht tatsächlich was von einer Disco erzählt?
«Ich mache die Buchhaltung für einen Club. Jede zweite Woche muss ich da auch anwesend sein und Geschäftsführer spielen. Eigentlich studiere ich BWL. Aber ehrlich gesagt geht das neben der Arbeit nur noch langsam voran.»
«Das ist ja auch kein Wunder», sagte Winter. «Trotzdem, lassen Sie das Studium nicht aus den Augen. Besser langsam als nie.»
Er begann sich zu verabschieden. Da fiel ihm noch etwas ein. «Wo haben Sie denn Sara kennengelernt? In diesem Club?»
Selim nickte. «Sie stand ganz lange schüchtern in einer Ecke und zog nicht mal ihren Mantel aus. Da hab ich gedacht, dieses Mädchen will ich kennenlernen. Wissen Sie, in so einem Club … man hat da die ganze Zeit halbnackte Frauen vor sich, die auf der Tanzfläche völlig aus sich herausgehen, die sich vorführen und offensichtlich jemanden zum Abschleppen suchen. Wenn Sie das nur haben, dann ist es Ihnen irgendwann zuwider. Dann sucht man den Kontrast, jemanden, der ein bisschen subtiler und introvertierter ist und nicht den Eindruck vermittelt … egal. Ich hab schon viel zu viel gesagt.»
«Mir ist jedenfalls einiges klarer geworden. Vielen Dank noch mal für das Gespräch.»
«Ich kann übrigens nicht garantieren, dass ich Sara jetzt nie wieder kontaktieren werde. Falls sie es sich anders überlegt …»
«Na ja, wie gesagt, wir denken, Sie sind tatsächlich etwas zu alt für Sara, und das hat sie ja jetzt auch selbst gemerkt. Aber letztlich ist das natürlich eine Sache zwischen Sara und Ihnen.»
Winter war keineswegs sicher, dass das eine Sache nur zwischen Selim und Sara war. Aber er wollte keine Trotzreaktion bei Selim provozieren. Falls er Selim regelrecht verbot, Sara zu sehen, würde der sich womöglich herausgefordert fühlen und das Mädchen erst recht nicht in Ruhe lassen.
Beim Hinausgehen warf Winter noch einmal einen verstohlenen Blick auf eins der wilden Ölbilder im Flur. Von der Tante gemalt. Höchst interessant das alles. Es war jedenfalls kein Fehler gewesen hierherzukommen.
Als Winter zwanzig Minuten später zu Hause das eigene bescheidenere Treppenhaus hochstieg und sich vorzustellen begann, was er Carola jetzt sagen würde, da wurde ihm klar: Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie seine Frau reagieren würde.
Die Ungewissheit hielt nicht lange an. Carola hatte sich bereits ins Schlafzimmer zurückgezogen. Als Winter sich aufs Bett setzte und begann, er habe von Selim erfahren, Sara habe heute die Beziehung beendet, da sagte sie bloß trocken: «Wie blöd bist du eigentlich, dass du dir so was erzählen lässt?»
Winters Einschätzung, dass der berüchtigte Selim nicht so problematisch sei wie vermutet, entrüstete Carola ebenfalls. «Nicht so schlimm? Was ist denn mit dir los? Das ist ein zwielichtiger Typ, der sein Geld in der Clubszene verdient, das gibt er ja selbst zu. Er hat Sara mit Drogen in Kontakt gebracht, niemand weiß, ob da nicht sogar Prostitution reinspielt. Die teure Wohnung spricht doch für sich. Wie kannst du nur so naiv sein und diesen Mist von Wohngemeinschaft mit den
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