Staustufe (German Edition)
nervös an seiner roten Fliege. «Nun gehen Sie doch erst einmal bei der Adresse fragen, vielleicht klärt sich dann alles ganz schnell», ordnete er an. «Das Personal, um tonnenweise Müll zu durchsuchen, haben wir einfach nicht im Moment.»
«Apropos, wen und was haben wir denn überhaupt?», fragte Winter. «Ich sehe hier außer mir selbst als Sachbearbeiter nur einen zugeteilten Beamten, und der ist auch noch von der Streife und im Kriminaldienst unerfahren. Verzeihen Sie, Heinrich, das geht nicht gegen Sie. Aber ich brauche definitiv noch weiteres Ermittlungspersonal. Wir müssen ja auch bundesweit Vermisstendaten abgleichen.»
«Was ist denn mit der Dame vom Kriminaldauerdienst?», fragte Fock.
«Die hat heute frei.» Winter tauschte einen Blick mit Aksoy. Sie sah ihn aufmunternd an und nickte. «Da Frau Aksoy mit dem Fall bereits vertraut ist», sagte er, an Fock gewandt, «könnten Sie vielleicht beim K 40 erreichen, dass die dort den Dienstplan der Kollegin etwas durcheinanderwerfen und sie uns zumindest heute schon mal für eine normale Schicht zuteilen. Am besten natürlich gleich für die Dauer der heißen Ermittlungsphase in dem Fall.»
Fock ließ ein kalkulierendes Mienenspiel sehen. Er pflegte beste Beziehungen zu sämtlichen Chefbüros der anderen Kriminalkommissariate. In der Tat schien Beziehungen zu pflegen seine Haupttätigkeit zu sein, da er sich an den Ermittlungen seltenst direkt beteiligte. Aber sein Vitamin B war eben auch nicht zu verachten.
«Das bekommen wir hin», sagte er schließlich. «Schreiben Sie mir den Namen der Dame auf. In einer halben Stunde ist sie dann offiziell im Dienst, versichert und einsatzfähig.»
«Mein armes Lenchen, ich muss dir noch was sagen.»
Lena schreckte aus Ninos Armen auf. Sie wurde blass.
«Nein», sagte sie.
«Oooch! Nichts Schlimmes. Nur Geldsachen. Enzo hat mir letzte Woche gekündigt. Weil ich dauernd nicht da war. Ach Lenchen, ich hab so viel Mist gebaut. Aber sorg dich nicht, ich hab schon was Neues. Hab vorgestern Mittag sämtliche Lokale abgeklappert in Griesheim und Gallus, jetzt hab ich kurzfristig was in einer Pizzeria an der Mainzer Landstraße, Bestellungen ausfahren. Mit dem Fahrrad. Noch weniger Geld natürlich, aber wirst sehen, irgendwann krieg ich auch wieder was als Koch.»
Lena hielt Nino ganz fest. Es war ihr so scheißegal, wo und was er arbeitete und wie viel Geld reinkam. Hauptsache, sie hatte ihn wieder. Hauptsache, sie hatte ihr Leben zurück.
Als Winter ins Büro zurückkehrte, hatte jemand einen Stapel neue Papiere auf seinem Schreibtisch deponiert. Während er darin blätterte, setzte sich Hilal Aksoy an Gerds alten Rechner, als wäre sie dort zu Hause.
Butzke, der Pathologe, war fleißig gewesen. Die Ergebnisse der Obduktion lagen vor, einschließlich Fotos, Röntgenbildern und etwas, das man aufgrund der schweren Kieferverletzungen nur mit gutem Willen als «Zahnschema» bezeichnen konnte. Ganz unten in dem Stapel fanden sich die Fingerabdrücke, die Freimann vom Erkennungsdienst der Leiche noch am Mainufer abgenommenen hatte.
Winter seufzte. Er wusste, es galt jetzt zahllose Vordrucke mit den Daten der unbekannten Toten auszufüllen. Das Mädchen, das im Leben niemandem einen Pfifferling wert gewesen war, würde als Tote in Aktenform in die Ewigkeit eingehen. Mit all den nötigen Schreib-, Sammel- und Kopierarbeiten wäre man einen Tag beschäftigt. Winter beschloss, die bürokratische Aktion zugunsten der dringlichen Ermittlungen zu verschieben. Sicherheitshalber sah er in den Vorschriften nach: Alles kein Problem, man hatte zwei Wochen Frist, die Meldung über einen unbekannten Toten ans LKA abzusetzen.
Die Fotos der Kleider des Mädchens waren auch schon da. Es konnte losgehen. Die vorläufige unbefriedigende Aufgabenverteilung sah so aus: Heinrich von der Streife übernahm Hilfsarbeiten. Er war schon zur Müllüberprüfung fortgegangen. Aksoy kümmerte sich um die Opferseite des Falles und er, Winter, um die täterbezogenen Ermittlungen sowie die zentrale Sachbearbeitung. Das hieß, er würde jetzt als Erstes die Adresse aufsuchen, die auf der Fahrkarte des Mädchens notiert gewesen war. Er nahm seine Dienstwaffe aus dem Schrank. Winter neigte dazu, sie zu vergessen, halb absichtlich wahrscheinlich, weil ihm Schusswaffen seit einem gewissen Erlebnis von Grund auf unsympathisch waren. Doch heute wollte er keinesfalls ohne Waffe raus. Die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass das Mädchen an der Adresse zu
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