Staustufe (German Edition)
das Wasser an. Während es rauschend einlief, knipste sie nervös eine weitere Tablette aus der fast leeren Folie, legte sie auf die Zunge und würgte sie trocken herunter. Die andere würde sie später aus der Ritze fischen.
Wenn sie sich nur erinnern könnte. Da war doch was, irgendwas, irgendein immer nur beinahe greifbarer Fetzen Erinnerung, der ihr keine Ruhe ließ.
Es war alles so lange her.
Er hätte wissen müssen, dass sie sich weder unterordnen noch an Absprachen halten würde. Die Aksoy fuhr ihr eigenes Ding. Ziel: Beförderung, vielleicht hatte sie es sogar auf seinen eigenen Posten als de facto -Leiter der Mordkommission 1 abgesehen. Oder gar ein Karrieresprung nach ganz oben, dank Frauen- oder Migrantenförderung oder Förderung von wer weiß was für einer Randgruppe, zu der sie vielleicht noch gehörte. Lesbe? Passen würd’s.
«Frau Aksoy, ich gehe allein wie geplant. Sie bleiben hier. Ihnen ist das Opferprofil zugeteilt. Sie können sich doch selbst denken, dass bei der schlechten Personaldecke effiziente Arbeitsteilung oberstes Gebot ist.»
«Stimmt. Aber es ist Sonntag, also werde ich hinsichtlich der Vermisstenfälle heute keinen Kollegen in den anderen Präsidien erreichen. Und woher wissen Sie eigentlich, dass die Adresse auf der Fahrkarte nur täterrelevant ist? Ich würde sagen, die Chancen sind groß, dass wir da auch etwas über das Opfer erfahren. Bei einem Haus mit so vielen Mietparteien würde ich außerdem sagen, dass dort Arbeitsteilung ziemlich sinnvoll wäre. In den Nachbarhäusern muss auch nach Zeugen gesucht werden. Zu zweit sind wir wahrscheinlich doppelt so schnell durch.»
Ganz unrecht hatte sie nicht. Winter versuchte, den Instinkt zu unterdrücken, der ihm sagte, dass die Aksoy seine Feindin war und er, komme was wolle, bei ihr den Daumen draufhalten musste. Es geht hier um die Sache, sagte er sich, nicht um persönliche Profilierung. Und du musst hier schon gar niemandem was beweisen. Es geht um das Mainmädchen. Um niemanden sonst.
«Also gut, kommen Sie mit. Haben Sie Ihre Weste an?»
«Der Täter hat doch wahrscheinlich keine Schusswaffe.»
«Aber ein Messer, und dagegen hilft die Weste auch.»
«Stimmt. Ich hab bloß dummerweise heute Morgen meine Weste zu Hause gelassen. Ich dachte ja, ich gehe nur zu einer Besprechung und dann gleich wieder zurück.»
Es sprach immerhin für sie, dachte Winter, dass sie nicht von vornherein auf weitere Mitarbeit bei der Kommission spekuliert hatte. Erstaunt über sich selbst, schlug er vor, auf dem Weg bei ihr zu Hause vorbeizufahren, damit sie die Weste holen könne. «Das ist ein Service, den ich gerne annehme», sagte sie fröhlich.
Es war kein großer Umweg. Sie wohnte in Bockenheim in einem durchschnittlichen Altbau in der baumlosen Großen Seestraße. Es war das alte Univiertel, die Mieten waren hier recht teuer.
Winter wartete draußen im Wagen. «Familie haben Sie sicher keine», kommentierte er, als sie nach höchstens zwei Minuten zurückkam, die Weste in der Hand. «Doch, wieso?», sagte sie.
Während er schon losfuhr, zog sie sich auf dem Beifahrersitz Jacke und Pullover aus und die Weste an. Winter hatte das Gefühl, er müsse wegsehen. Aber das tat er ja sowieso, da er fuhr. Der Verkehr forderte allerdings am heutigen Sonntag kaum Aufmerksamkeit. Doch die zahllosen Ampeln auf der immer nobler werdenden Mainzer Landstraße hielten auf und machten Winter nervös. «Wir hätten die Kleyerstraße nehmen sollen», kommentierte Aksoy. Winter verkniff sich eine Reaktion. («Fahren Sie doch, wenn Sie es besser können» lag ihm auf der Zunge.)
Um genau halb eins trafen sie vor der Zieladresse in Griesheim ein. Es war Siedlungsbau der sechziger Jahre, eines von vielen gleichartigen, schmucklosen Gebäuden. Ein Karree Rasen davor sollte wohl Gartenambiente vermitteln, verstärkte jedoch eher die Tristesse. Dass das attraktive Mainufer nur wenige Gehminuten entfernt lag, ahnte man nicht.
«Haben wir einen Plan, wie wir vorgehen?», fragte Aksoy, als sie sich abschnallte.
«Keinen besonderen. Wir fangen unten im Haus an. Sie nehmen das zweite und das vierte Geschoss, ich das erste und dritte», erwiderte Winter.
«Ich meinte hauptsächlich, wie wir beim Fragen vorgehen. Zeigen wir gleich das Foto?»
Auf dem Bild war die Bekleidung des Opfers oder vergleichbare Stücke zu sehen. Natürlich hatte der Fotograf statt des zerstochenen schwarzen T-Shirts ein anderes genommen. Die Kleider waren auf eine grazile Puppe
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