Staustufe (German Edition)
Schwarzweiß-Liebeskomödie im Fernsehen verwöhnen. Sie liebte diese ARD-Sonntagnachmittagsfilme aus der Klamottenkiste, aus einer Zeit, als die Welt noch leichter zu verstehen war. Als man noch wusste, was einen erwartete.
Da ging schon wieder die Klingel. Penetrant. Der Bulle von vorhin, garantiert. Mitten im Film. Also gut, ehe der ihr die Tür eintrat … Sie erhob sich langsam aus dem Sessel. Aus ihren Achseln drang eine Wolke aus stechendem Buttersäuregeruch. Alter Schweiß, von Bakterien zersetzt. Gott, wie peinlich.
Sonja Manteufel riss die Wohnungstür auf. Doch davor stand nicht der Bulle. Davor stand eine Frau, und zwar ausgerechnet der weibliche Teil des Traumpaars.
Wenn es Leute gab in diesem Haus, die ihr als Nachbarn so richtig auf den Keks gingen, dann war es das Traumpaar von oben. Schöne Frau, schöner Mann, ewig glückliche Liebe, die der ganzen Welt vorgeführt werden musste. Schmatzgeräusche und geflüstertes Geturtel im Treppenhaus. Lange, zärtliche Umarmungen und liebevolles Einander-selig-Betrachten an der Bushaltestelle, die sie von ihrem Küchenfenster aus gut einsehen konnte. Koseworte und Händchenhalten in der Schlange im Supermarkt.
«Kann ich bitte reinkommen, ich muss mit jemandem reden», sagte die Traumfrau. Aber nach Traum sah sie heute überhaupt nicht aus. Eher nach Albtraum.
Sonja Manteufel war Expertin für Albträume.
Wortlos trat sie zur Seite und gab der Frau den Weg frei.
Im Wohnzimmer wies sie ihr den einzigen guten Sessel zu, schaltete den Fernseher aus und drückte dem Häufchen Elend ein Glas Cola in die zittrige Hand. Sie sah wirklich aus, als könnte sie ein bisschen Zucker für den Kreislauf gebrauchen.
Während die Besucherin vorsichtig an dem Glas nippte, zog Sonja Manteufel am Fenster den Vorhang auf. Licht fiel ins Zimmer. Sie fühlte sich plötzlich um Jahrzehnte zurückversetzt. In die dreizehn-, vierzehnjährige Sonja, das fast noch schlanke Mädchen, und wie es sich damals anfühlte, eine neue Freundin kennenzulernen. Eine Zeitreise. Warum nicht einsteigen in den Zug zurück?
«Wie heißt du eigentlich?», fragte sie ihre Besucherin. Falls die erstaunt war, geduzt zu werden, zeigte sie es jedenfalls nicht.
«Eleni», sagte sie. «Meine Freunde nennen mich Lena.» Sie lachte sarkastisch und fing gleichzeitig an zu weinen.
Sonja Manteufel sagte nichts. Lena Serdaris hatte sich bald wieder gefangen. «Du bist Juristin, oder?», fragte sie ihr Gegenüber.
«Woher weißt du das?», fragte Sonja zurück.
«Ich sehe im Altpapier immer so Zeitschriften von einem Berufsverband, an dich adressiert. Dr. Manteufel.» Sie lächelte traurig.
«Klug kombiniert. Aber ich praktiziere nicht. Ich glaube nicht, dass ich dir helfen kann.»
«Mir kann wahrscheinlich niemand mehr helfen», sagte Lena. «Aber zuhören könntest du mir vielleicht. Damit ich nicht mehr so alleine damit bin.»
Etwa eine Stunde später war sie fertig mit ihrer Geschichte.
Sonja war lange still. Es gab wohl für jedes Glück früher oder später einen Preis zu zahlen, dachte sie. Nicht nur für ihr eigenes. Je größer das Glück, desto höher der Preis. Die Kinder, die man liebt und am Ende ziehen lassen muss auf ihrem eigenen, unverständlichen Weg. Die Männer, die man früher oder später verliert, wenn nicht durch bittere Trennung, dann durch den Tod. Gezahlt werden musste, so oder so.
«Tu nichts», riet sie Lena am Ende. «Tu gar nichts. Ignoriere es. Was geschehen ist, ist geschehen, du musst nicht wissen, wie. Das willst du doch gar nicht wissen. Frag ihn nicht danach.»
«O Gott. Kann ich denn damit leben?», brachte Lena mühsam hervor.
«Du könntest es versuchen. Ich hab euch zusammen gesehen, Lena. Ich sehe euch seit Jahren. Ich finde, dass es sich lohnt, es zu versuchen.»
Ein Ohr an der Wohnungstür hatte gereicht, um zu wissen, dass Sonja Manteufel weiblichen Besuch hatte. Aksoy glaubte sogar, in der schwachen, nur entfernt hörbaren zweiten Stimme eindeutig die von Frau Serdaris zu erkennen. Sie beschlossen, den Vogel vorläufig dort zu belassen. Unterdessen konnte Winter die noch ausstehende letzte Wohnung im Obergeschoss überprüfen. Aksoy wartete draußen im Wagen, die Tür im Blick. Wie besprochen bestellte sie eine Streife. Nur zur Sicherheit, falls es später Probleme gab.
Am Klingelschild für die Wohnung ganz oben links hatte nur ein Name gestanden. Doch es stellte sich heraus, dass gegenüber der Serdaris in nur zwei Zimmern drei Männer wohnten.
Weitere Kostenlose Bücher