Staustufe (German Edition)
Winter ließ sich die Pässe und Meldebescheinigungen zeigen, es waren Inder, alle um die dreißig, alle legal im Land.
Die merkwürdige Wohnkonstellation schürte in Winter wieder Zweifel, ob die Serdaris und ihr Freund tatsächlich die Personen waren, die sie suchten. Erst recht, als er einen dicken Verband an der Hand eines Inders bemerkte.
«Mit dem Teppichbodenmesser geschnitten», lautete dessen Erklärung. Sie hätten im Flur gerade neuen PVC verlegt. Von einem Mädchen wussten sie angeblich alle nichts. Ob sie manchmal Damenbesuch hätten, hakte Winter nach. «Nein! Nie!» Da waren sich alle drei ganz einig. Das Gespräch fand teilweise auf Englisch statt, da zwei der Herren nicht gut Deutsch sprachen.
«Sind Sie homosexuell?», fragte Winter schließlich und lehnte sich gegen die Spüle. Die Küche war winzig, aber der einzige Raum, der nicht zugleich als Schlafzimmer fungierte.
Alle drei sahen ihn mit dem exakt gleichen aufgebrachten Blick an. Nein! Natürlich waren sie nicht homosexuell. Ganz und gar nicht!
«Warum leben Sie hier dann zu dritt und ohne Frau?»
Es sei eine Wohngemeinschaft, klärten sie ihn auf. Das sei billiger so.
«Sie arbeiten aber doch?»
O ja. Die drei Herren waren «software engineers».
«Da verdient man doch ausgezeichnet?»
Soso, wie man’s nimmt, erklärten die Herren gleichzeitig und mehrstimmig. So viel wie zu Anfang sei es nicht mehr. Es stellte sich heraus, dass sie alle vor Jahren mit einer Green Card nach Deutschland gekommen waren. Aber bald darauf war die Internet-Blase an der Börse geplatzt. Zwei von ihnen hatten sich mehrfach neue Arbeitgeber suchen müssen, und alle drei verdienten längst nicht mehr das Äquivalent der hunderttausend Mark im Jahr, mit denen sie als Green-Card-Inhaber laut Gesetz angeworben worden waren.
«Aber für eine eigene Wohnung für jeden von Ihnen dürfte es doch reichen?», fragte Winter.
« Not quite, not quite », sagten zwei unisono, und der dritte, der im Deutschen am eloquentesten war, ergänzte: «Wir sparen für eine Wohnung. Zwei oder drei Jahre dauert es noch. Dann heiraten wir, und jeder kauft eine Wohnung.»
Aha, jetzt sah Winter klarer. Die sparsamen Asiaten.
«Und eine Braut haben Sie alle schon?»
Nur einer von ihnen hatte bereits eine Braut und zeigte willig ein Foto von einem sehr jungen, sehr hübschen indischen Mädchen. Die anderen waren «in Verhandlungen» mit Bekannten oder Verwandten oder Bekannten von Verwandten in Indien, die anscheinend alle nur darauf warteten, ihre Töchter an aufstrebende junge Männer in Deutschland zu geben, ob sie sie nun schon einmal gesehen hatten oder nicht.
Akut herrschte bei den Herren wohl sexueller Notstand, vermutete Winter. Konnte es sein, dass einer der drei das Mainmädchen in die Wohnung eingeladen hatte? Vielleicht brauchte sie einen Schlafplatz, und man hatte gehofft, für das Bett eine sexuelle Gegenleistung zu erhalten. Als die Gegenleistung eingefordert werden sollte, war es zum Streit gekommen … Aber war das wahrscheinlich? Glücklich war Winter mit diesem Szenario nicht. Es hakte zu vieles. Zum Beispiel, dass das Mainmädchen nicht vergewaltigt worden war. Jedenfalls nicht vaginal oder anal. Da hätten sich Spuren gefunden. Aber ein irgendwie sexuell geartetes Motiv war vorläufig noch das Sinnvollste, was Winter für die Tötung einer mittellosen Sechzehn- bis Achtzehnjährigen einfiel.
Winter verabschiedete sich freundlich und voller Dankesworte für die Hilfe bei den drei Herren, um sie in Sicherheit zu wiegen. Doch insgeheim überlegte er, den Staatsanwalt zu einer Durchsuchung zu überreden. Falls die Inder oder einer von ihnen das Mädchen getötet hatten, dann war klar, dass sie ihm fröhlich weiter ins Gesicht lügen würden. Die einzige Möglichkeit, sie zu überführen, wären also Indizienbeweise, Faser- oder genetische Spuren, die zeigten, dass sich das Opfer in der Wohnung aufgehalten hatte. Winter war es dem Mainmädchen schuldig, jeder Möglichkeit nachzugehen, und wenn er am Ende alle Wohnungen des Hauses auf den Kopf stellen ließ. Das Opfer hatte einen Kontakt hier im Haus gehabt. Das war praktisch sicher. Da aber alle Bewohner leugneten, das Mädchen zu kennen, lag jetzt eines näher denn je: Einer der Bewohner war ein Mörder. Eine oder einer von denen, an deren Türen sie heute hier geklingelt hatten, hatte einem wehrlosen Mädchen mit einem großen Stein Gesicht und Schädel eingeschlagen. Zu viel Rücksichtnahme war nicht
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