Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Staustufe (German Edition)

Staustufe (German Edition)

Titel: Staustufe (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Reichenbach
Vom Netzwerk:
Mülltonne. Er zog seinen Torso wieder heraus aus dem Abgrund und drehte sich um, verdreckt, schwitzend und rot im Gesicht. Der Mann, der ihn angesprochen hatte, war Mitte fünfzig, kräftig und mit grauem Arbeitskittel bekleidet. Er stand nur einen Meter entfernt und musterte ihn kritisch. Heinrich war in diesem Augenblick sehr dankbar für seine Uniform. «Heinrich, Schutzpolizei», stellte er sich vor. «Ich durchsuche im Auftrag der Kripo die Mülleimer in der Umgebung.»
    «Der ganze Dreck hier am Boden, ist das auch Auftrag der Kripo? Gucken Sie mal, wie das hier aussieht!»
    Es sah tatsächlich nicht schön aus auf dem Asphalt, denn eine Mülltüte war beim Herausholen geplatzt. Ein widerliches, triefendes Gemisch aus gammligen Fleisch- und Gemüseresten lag direkt neben Heinrichs linkem Fuß. Er hatte in den Straßen, in denen er gesucht hatte, eine Schneise der Verwüstung hinterlassen.
    «Lässt sich nicht vermeiden», sagte er möglichst selbstbewusst zu dem böse dreinblickenden Mann. «Es geht um einen Mordfall. Da ist Sauberkeit nicht erste Priorität. – Sie sind hier der Hausmeister?»
    Der Mann nickte, von dem Wort «Mordfall» doch leicht eingeschüchtert.
    «Dann können Sie mir hoffentlich helfen. Ich müsste da unten dieses gelbe Heftchen hochbekommen. Hier, sehen Sie mal, genau da. Aber ich komm nicht dran. Haben Sie vielleicht eine Harke oder so was?»
    «Sicher», sagte der Mann und bewegte sich schwerfällig zu einem Schuppen in der Hofecke. Was er schließlich anbrachte, war tatsächlich eine Harke, eine mit beweglichen Zinken, wie man sie früher zum Laubrechen benutzt hatte, bevor es diese lauten, dieselstinkenden Blasgeräte gab. Statt Heinrich die Harke zu geben, begann der Mann, selbst in der Tonne nach dem Heftchen zu stochern. Heinrich war das ganz recht.
    «Das ist nämlich ein Flugticket», schnaufte der Hausmeister nach einer Weile, «Lufthansa.» Ein paar Sekunden später hatte er das gelbe Lufthansa-Heftchen oben und überreichte es Heinrich. Der nahm es mit seinen behandschuhten Fingern entgegen. Ein weggeworfenes Flugticket war garantiert nicht fallrelevant. Aber da der Mann es ihm hochgeholt hatte, musste er nun zumindest hineinsehen.
    Ein Linienflug Frankfurt–Los Angeles, stellte er fest. Mit ihrem Mainmädchen hatte das nun bestimmt nichts zu tun. Heinrich wollte es gerade kopfschüttelnd wieder wegwerfen, da sah er das Flugdatum: Sechster November. Das war nächste Woche. Das Ticket war unbenutzt und vollständig. Alle Durchschläge und sogar die Bordkarte waren dabei. So etwas wirft man doch nicht weg, dachte Heinrich.
    «Wohnt bei Ihnen eine Jeannette Hunziker im Haus?», fragte er den Hausmeister.
    «Nein», sagte der.
    Merkwürdig, dachte Heinrich.

    Es war Zufall, dass Winter vor Gerds Rechner Platz nahm. Dessen Schreibtisch war einfach so schön leer. Hier ließ sich besser als an seinem eigenen überquellenden Arbeitsplatz die Mahlzeit einnehmen, die er und die Aksoy sich vom China-Imbiss hatten kommen lassen. Als Winter die Tastatur wegschob, um fürs Essen Platz zu schaffen, schaltete sich automatisch der Bildschirm ein. Der zeigte noch immer, was Aksoy vor drei Stunden hier aufgerufen hatte: ein Kinderfoto des seit Jahren vermissten Mädchens Jessica aus Marl. So große Augen, dachte Winter. Große, hungrige Augen. Dann begriff er.
    «Sie ist unterernährt», sagte er unvermittelt. Aksoy, die auf einem Stuhl an der Schmalseite des Tisches Platz genommen hatte, nickte mit vollem Mund. «Das war auch mein Gedanke», sagte sie, nachdem sie runtergeschluckt hatte.
    Winter lehnte sich zurück. Er rief sich ins Gedächtnis, was ihm Hilal Aksoy heute Mittag über den nordrhein-westfälischen Vermisstenfall berichtet hatte.
    «Ich hätte zu gern gewusst», bemerkte er, «warum die Kollegen in Marl damals den Eltern geglaubt haben, dass das Mädchen von selbst verschwunden ist. Es liegt doch der Verdacht nahe, dass die Eltern ihre Tochter zu Tode misshandelt haben oder verhungern ließen, und dann haben sie die Leiche beseitigt. Warum sonst sollten sie zwei Jahre lang warten, bis sie ihre verschwundene Tochter vermisst melden?»
    «Ich habe den Kollegen im zuständigen Kriminalkommissariat heute Vormittag schon gemailt», bemerkte Aksoy, «mit genau dieser Frage. Morgen rufe ich da gleich an. Ich hoffe nur, dass jemand sich noch einigermaßen an den Fall erinnern kann. Ansonsten muss ich hinfahren, zur Akteneinsicht. Und das gibt einen bürokratischen Riesenaufwand

Weitere Kostenlose Bücher