Staustufe (German Edition)
wegen der Spesen.»
«Darf ich Ihnen eine dumme Frage stellen?», begann Winter, nachdem sie beide eine Weile schweigend gegessen hatten.
«Bitte.»
«Sie essen gerade Schweinefleisch. Ist das kein Problem für Sie?»
Aksoy lachte. «Ja, das ist ein Problem für mich, wegen den schlechten Zuständen bei der Tierhaltung. Aber nicht als Muslima, nein. Sie essen in der christlichen Fastenzeit doch auch, was Sie wollen, oder?»
Winter musste kurz nachdenken, was die «christliche Fastenzeit» überhaupt war. Dann fiel es ihm ein: die letzten sieben Wochen vor Ostern. Oder so ähnlich.
«Na ja», sagte er, «das ist doch ein bisschen was anderes. Daran hält sich doch bei uns sowieso niemand.»
«Niemand mehr », ergänzte Aksoy. «Vor hundert Jahren dürfte das anders ausgesehen haben. Übrigens, um zum Thema zurückzukommen. Ist Ihnen beim Obduktionsbericht auch aufgefallen, dass die Schnelltests auf Drogen beim Mainmädchen alle negativ waren? Das ist doch seltsam. Ich hätte gedacht, die war vollgepumpt bis zum Abwinken. Also, weil keine Verteidigungsspuren gefunden wurden. Keine Abwehrtraumata an den Armen, keine Abschürfungen, keine Haut oder Fasern unter den Fingernägeln. Nichts.»
Winter nickte über seinem schon fast leeren Plastikschälchen mit Ente Szechuan. Eine angenehme, satte Müdigkeit breitete sich in ihm aus. Er legte die Plastikgabel ab und drehte den Stuhl so, dass er Aksoy besser im Blick hatte. «In der Tat», sagte er, «das ist eine der Merkwürdigkeiten dieses Falles. Ich werde da auch nicht schlau draus. Es sieht ja so aus, als hätte sie die Angriffe bei vollem Bewusstsein brav über sich ergehen lassen. Sie scheint sich weder gewehrt zu haben, noch hat sie versucht zu fliehen. Alle achtzehn Stiche frontal in den Bauch, keiner in den Rücken, keiner auch nur angeschrägt. Die hat nicht mal den Ansatz gemacht, sich wegzudrehen.»
«Das kann doch eigentlich nicht sein», murmelte Aksoy leise und lehnte sich ihrerseits zurück. Sie strich sich eine lose Strähne aus dem Gesicht, löste ihr Haargummi, schüttelte ihre Mähne und band sie neu. Ihr Gesicht über dem strengen schwarzen Rolli war vom Essen leicht gerötet. «Vielleicht kommt da von den genaueren Drogentests noch was nach?»
«Glaub ich nicht», entgegnete Winter. «Wenn die schnellen Tests nicht anschlagen, kann die Dosis so hoch nicht gewesen sein.»
«Aber ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass sie während der Stiche bei Bewusstsein war. Also stimmt es vielleicht nicht, was ich heute Morgen in der Sitzung behauptet habe: dass sie erst erstochen worden ist, und dann hat der Täter ihr das Gesicht zerschlagen, um sie unkenntlich zu machen. Es war eher umgekehrt. Der Täter hat erst zugeschlagen, bis sie bewusstlos war, und dann zugestochen.»
«Oder die Täterin», ergänzte Winter. «Wir wollen ja hier das weibliche Geschlecht nicht diskriminieren, stimmt’s?»
«Haha», sagte Aksoy.
«Gut», sagte Winter. «Nehmen wir das umgekehrte Szenario. Erst haut er ihr frontal einen großen, schweren Stein ins Gesicht, den sie nicht abzuwehren versucht. Nicht mal reflexartig. Er trifft so hart und gut, dass sie sofort bewusstlos umkippt. Er schlägt noch mehrmals zu, während sie am Boden liegt, bis er das Gesicht in Matsch verwandelt hat. Und dann? Er hört sie vielleicht röcheln. Sie ist bewusstlos, aber atmet noch. Daraufhin zückt der Täter – oder die Täterin – das Messer.»
«Oder geht erst in die Küche, um ein Messer zu holen», schlug Aksoy vor.
«Gut, sehr gut. Und die Person sticht danach wahllos auf dem Bauch des Opfers herum, um ganz sicherzugehen, dass das Mädchen stirbt.»
Winter stand mit einem Ruck auf, suchte in seinem eigenen Rechner nach Butzkes Telefonnummer und rief ihn an.
«Professor Butzke? Winter, K 11. Tut mir leid wegen der sonntäglichen Störung. Ich habe eine kurze Frage bezüglich der Mädchenleiche aus dem Main. Kann es sein, dass sie den ersten Schlag ins Gesicht bekam, während sie gestanden oder gesessen hat? Und wäre eine Frau von der Kraft her in der Lage gewesen, so fest zuzuschlagen? – Aha. M-hm. Ja. Gut, danke, Herr Butzke. Haben Sie noch einen schönen Sonntag.»
Aksoy sah ihn fragend an.
«Unwahrscheinlich, sagt Butzke. Hätte sie gestanden oder gesessen, wäre ein Teil der Gewalt des Schlages automatisch durch die Bewegung des Oberkörpers nach hinten abgefangen worden. Der Stein hätte sehr schwer sein müssen. Er bezweifelt, dass er dann so
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