Staustufe (German Edition)
mit Jugendlichen. Sie sagt auch immer, sie würde dich gerne kennenlernen.»
«Nino, mi dispiace , es geht nicht, das ist mein letztes Wort. Du würdest es auch nicht gerne sehen, wenn ich hier plötzlich einen jungen Mann vom Bahnhof anschleppe und dir sage, dass der künftig bei uns wohnt.»
Nino sah gequält drein. «Aber sie ist so – so schutzbedürftig!»
«Nino, glaub mir, ich auch. Deshalb mute mir das bitte nicht zu.»
Nino überlegte einen Moment mit dem gleichen gequälten Ausdruck.
«Okay, okay. Sie wird nicht bei uns wohnen. Aber ich hab ihr schon gesagt, dass ich sie heute mit zu uns nehme. Du hattest ja letztes Jahr schließlich auch diesen Schulfreund über Nacht zu Besuch, Frank oder wie er hieß. Gib mir drei Tage, die Sache zu regeln. Drei Tage lass ich sie hier schlafen, und bis dahin muss was anderes gefunden sein, und wenn nicht, dann bleibt sie jedenfalls nicht länger hier. Ich hab morgen eh einen extra Termin für sie beim Meldeamt, da will ich auf jeden Fall noch mit ihr hin, danach ist das Sozi zuständig.»
Lena akzeptierte. Was blieb ihr übrig? Sie konnte Nino doch nicht verbieten, für drei Tage Besuch mitzubringen. Und sie wollte wirklich nicht als böse, hysterische Zicke dastehen, die einem armen Straßenmädchen Hilfe verweigert.
Als Lena am selben Abend um halb neun von der Arbeit zurückkam, wusste sie, Jeanette würde schon da sein. Lena hatte beschlossen, die Sache gefasst und undramatisch zu nehmen. Tatsächlich hatte sie einen guten Draht zu Jugendlichen, war die erklärte Lieblingstante zweier Nichten, der vielgenutzte Kummerkasten eines der Mädchen unten im Haus. Vielleicht würden die drei Tage ganz nett werden, und sie könnte einen positiven Einfluss auf Jeannette ausüben.
Als sie an diesem Abend die Wohnung betrat, hörte sie Stimmen aus dem Gästezimmer. Da Nino ihr nicht zur Begrüßung entgegenkam, ging sie direkt hin. Die Tür zum Gästezimmer stand offen. Sie sah das Mädchen zuerst im Profil. Der Schock war so groß, dass ihr fast schwindelte. Das Mädchen war in einen schwarzen Umhang gekleidet, das Gesicht kalkweiß geschminkt, die Augen fingerdick mit schwarzem Kajal umzogen, die Lippen schwarz angemalt. Doch die ganze Gestalt wirkte fragil, zartgliedrig, das Gesicht kindlich-süß. Ganz ähnlich, wusste Lena, musste sie selbst mit zwanzig gewirkt haben. Auch Ninos Exfreundin aus der Schulzeit war ein ähnlicher Typ gewesen. Wenn Lena irgendeinen Zweifel gehabt hatte, woher die Motivation für Ninos außerordentliche Hilfsbereitschaft, für seine Fixierung auf dieses Mädchen rührte, dann waren sie in dieser Sekunde verflogen. Aber sie musste jetzt Haltung bewahren. «Hallo», sagte sie so fröhlich-normal, wie sie konnte.
Nino sagte: «Jeannette, das ist Lena. Ich hab dir ja schon viel von ihr erzählt.»
Erst jetzt drehte das Mädchen den Kopf in Lenas Richtung, musterte sie kalt, ohne ihr in die Augen zu sehen, drehte sich darauf gleich wieder zu Nino und sagte in einem unerträglich künstlichen, zuckersüßen Ton: «Sie ist hübsch.»
Als wäre Lena nicht dabei. Lena dachte: Mit dem Spruch will sie sich bei Nino einschleimen, nicht bei mir.
Von Nino kam: «Lena, Jeannette will jetzt baden. Falls du noch mal ins Bad musst, gehst du am besten gleich.»
«Okay», sagte Lena. Das Mädchen gab sich nicht die Mühe, noch einmal zu ihr herüberzusehen. Die ganze Situation vermittelte den Eindruck, dass sie hier störe. Lena zog sich zurück, ließ die beiden allein.
Fünf Minuten später, sie war auf dem Weg zur Küche, begegnete ihr Jeannette im Flur.
«Na», sagte Lena grüßend und lächelte freundlich. Sie hatte es noch nicht ganz aufgegeben, wollte die Situation nicht eskalieren lassen. Doch Jeannette reagierte mit keiner Regung, schob sich an Lena vorbei, als sei sie ein lästiges Hindernis.
Einige Zeit später erschien Nino in der Küchentür.
«Haben wir noch ein neues Päckchen Seife? Jeanette ist das alte Stück zu dreckig.»
Dreckig?
«Die Dro-Markt-Vorräte sind in der untersten Schublade unterm Waschbecken», dirigierte Lena. «Da muss auch noch ein Stück Seife sein.»
Nino zog wortlos ab. Wenige Minuten später war er wieder da.
«Haben wir irgendwo frische große Badehandtücher? Jeannette hat die großen lieber, aber ich finde jetzt nur normale Handtücher.»
Lena zog die Augenbrauen hoch. «Wir haben ein paar große im Wäscheschrank ganz oben rechts.»
Einige Instruktionen später war der Gast fürs Baden
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