Staustufe (German Edition)
sagen zu können, wenn ihn jemand um Hilfe bat. Aber ob er sich um einen männlichen Obdachlosen ähnlich intensiv gekümmert hätte?
Nino arbeitete als Koch in einem italienischen Restaurant in Sachsenhausen, Montag bis Samstag von elf Uhr morgens bis elf Uhr abends, nachmittags zwei Stunden Pause. Eines Tages, Lena saß an ihrem eigenen Arbeitsplatz, klingelte gegen sechs ihr Handy. Es war Enzo, der Betreiber von Ninos Restaurant. Wo denn Nino bleibe, wollte Enzo wissen. Er sei jetzt eine Stunde überfällig. Übers Handy nicht erreichbar.
Lenas Herz begann zu klopfen. Sie selbst arbeitete von zwölf bis zwanzig Uhr und hatte Nino heute Morgen ganz normal losgehen sehen. Er kam niemals irgendwo zu spät. War ihm in der Mittagspause etwas zugestoßen? Ihre Hände zitterten leicht über der Nähmaschine. Es war Samstag, Hochbetrieb in der Reinigung-plus-Änderungsschneiderei, wo sie angestellt war. Verstohlen versuchte sie zwischendurch, Nino anzurufen. Doch sie erreichte immer nur die Mailbox. Um halb acht hielt sie es nicht mehr aus, probierte über die Rückruffunktion Enzos Nummer. Der klang sauer. «Nino? Der ist längst da. Aber der soll mich besser nicht noch einmal so sitzenlassen.» Worauf Enzo sofort das Gespräch beendete.
Lena atmete auf. Doch den ganzen Abend verfolgte sie eine Unruhe. Was war heute Nachmittag mit Nino los gewesen? Etwas stimmte nicht, das spürte sie.
Sie blieb auf, bis ihr Liebster gegen halb eins nachts zurückkam. Er schien abwesend und bedrückt, begrüßte sie nicht so liebevoll wie sonst. «Nino, Schatz, ist irgendwas? Enzo hat mich heut Nachmittag angerufen, du wärst nicht da.»
Auf Ninos Gesicht bemerkte sie einen verärgerten Zug, einen Zug, den sie nur sehr selten in all den Jahren gesehen hatte.
«Ach, der Enzo, der soll sich nicht so anstellen. Ich war halt mal zu spät.»
«Eine ganze Stunde? Was war denn?»
«Nichts weiter. Ich war während der Mittagspause unterwegs, hat halt länger gedauert. Hatte eine Verabredung mit Jeannette am Südbahnhof, sie war aber nicht da. Erst hab ich gewartet, dann bin ich sie suchen gegangen. Bin zum Hauptbahnhof und zur Konsti, da ist sie manchmal.»
Lena war sprachlos. Aus der Dunkelheit draußen drangen Stimmen von Jugendlichen durchs Fenster. Plötzlich schien alles unwirklich.
«Wenn sie nicht kommt, kommt sie halt nicht», sagte sie schließlich, «wieso musst du sie dann suchen gehen?»
In dem Moment kannte sie die Antwort. Nino war in das Mädchen verliebt. Zum ersten Mal seit fünfzehn Jahren war sie, Lena, nicht mehr der Mittelpunkt von Ninos Leben.
Das sagte er ihr natürlich jetzt nicht. Jeannette brauche eben Hilfe, erklärte er, jemand müsse sich kümmern, die Ärmste sei psychisch in schlechtem Zustand, habe zu Hause Schreckliches erlebt, ritze sich selbst die Arme auf, sie sei ja noch so jung, mit Drogen wolle sie auch gar nichts zu tun haben, man könne ihr leicht helfen, jemand müsse dafür sorgen, dass sie eine bessere Zukunft bekomme.
«Ist dafür nicht das Jugendamt zuständig?», fragte Lena.
«Na ja, auch, aber man muss sie dahin erst mal bekommen. Sie hat Angst vor Ämtern. Da wollte ich heute ja mit ihr hin, aufs Meldeamt.» Das hörte sich nun für Lena beinahe wieder beruhigend an.
In den nächsten Tagen suchte sie nach Zeichen, in seiner Stimme, in seinen Blicken.
Jede Beruhigung war vorüber, als Nino Ende der Woche am Frühstückstisch anfing: Ob sie nicht zu dritt mit den Ersparnissen eine eigene Pizzeria eröffnen wollten? Er würde kochen, sie und Jeannette bedienen. An der Waldschulstraße stehe etwas leer, zum Lokal gehöre eine Wohnung, vier Zimmer, Platz für sie beide und Jeannette.
Lena traf es wie ein Holzhammer. Sie fand, er sei durchgedreht, sie so was zu fragen. Zugleich wusste sie kaum, wie sie reagieren sollte. Sie fühlte sich von ihm in die Ecke der eifersüchtigen Zicke gedrängt, die das hilfsbedürftige junge Mädchen nur als Konkurrenz sehen kann und fortbeißen will. Aber alle ihre Instinkte schrien.
Sie wolle eigentlich nicht mit einer dritten Person zusammenziehen, brachte sie schließlich heraus. Übrigens werde es Gründe geben, warum das Lokal in der Waldschulstraße leerstehe. Sie halte das für ein zu hohes Risiko.
Wie kann er mir das antun?, dachte sie.
Als er sich an dem Morgen zum Gehen bereit machte, wie neuerdings üblich eine Stunde zu früh, und sie sich verabschiedeten, merkte sie, dass er innerlich überhaupt nicht bei ihr war. Keine Freude, nichts
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