Staustufe (German Edition)
Denn auf dem Weg zurück ins Büro erhielt Winter einen Anruf von einem Wachmann der Gewahrsamszellen. Herr Antonio «Nino» Benedetti lasse ausrichten, er wolle betreffs des Mainmädchens ein Geständnis ablegen.
Während Benedetti gebracht und der Vernehmungsraum vorbereitet wurde, warf Winter rasch einen Blick auf die Informationen zum Thema Borderline-Syndrom, um die er am Samstag den Psychologen gebeten hatte. Görgen hatte eine stichpunktartige Beschreibung zusammengestellt. Winter ging bisher nicht davon aus, dass Jeannette an einer psychischen Krankheit gelitten hatte. Doch je weiter er las, desto mehr musste er zugeben, dass Görgens Schnellschuss-Diagnose «Borderline-Störung» zutreffen konnte. Tiefere Ursache der Krankheit: häufig Misshandlung, Vernachlässigung oder sexueller Missbrauch in der Kindheit. Das passte schon mal. Abbruch von Schule oder Ausbildung – dies traf bei einem Straßenmädchen sicher ebenfalls zu. Weiter: Borderliner seien unreife, von Ängsten und albtraumhafter Wahrnehmung geplagte Persönlichkeiten mit massiven Defiziten im sozialen Bereich. Sie könnten Nähe nicht ertragen, aber erst recht nicht das Alleinsein, und verwickeln andere schnell in intensive Beziehungen. Können sehr charmant sein, aber ihre Bezugspersonen auch stark unter Druck setzen (Suiziddrohungen). Hatte das Mädchen Benedetti auf diese Weise unter Druck gesetzt? Beziehungen von Borderlinern sind instabil und einseitig, weil sie zu viel verlangen, aber selbst nicht in der Lage sind, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und auf sie einzugehen. Bei Widerstand gegen ihre Wünsche werten sie ihre Bezugspersonen ab und verteufeln sie. In psychiatrischen Kliniken oder Wohneinrichtungen würden Borderline-Patienten häufig die Betreuergruppe spalten in solche, die sich übertrieben stark für sie engagierten und in andere, die dies nicht täten und die sie als Feinde betrachteten.
Winter rieb sich die Schläfen. Ob das Mainmädchen nun im psychiatrischen Sinne gestört war oder nicht: Eines war klar, sie hatte im Hause Serdaris-Benedetti mit dem Feuer gespielt. Sie hatte nicht erkannt, wie sehr Benedetti an seiner Frau hing und diese an ihm, und dass sie sich in Gefahr begab, wenn sie einen Keil zwischen die beiden trieb. Hätte sie sich stattdessen auch um Serdaris’ Freundschaft und Hilfe bemüht, statt diese gegen sich aufzubringen – nicht auszuschließen, dass Jeannette sich heute im Gästezimmer des Paares wohlversorgt ihres Lebens freuen würde.
Der attraktive Nino Benedetti war bleich, aber gefasst. Winter ließ ihn erst einmal frei reden. Zum Nachfragen war später noch Zeit.
Der Verdächtige erzählte im Groben die gleiche Geschichte wie gestern Abend seine Frau, bloß aus seiner Perspektive. Er brauchte dafür nur fünf Minuten und nicht zwei Stunden wie die Serdaris. Die Geschichte endete damit, dass er gefürchtet habe, dass Mädchen werde ihn niemals in Ruhe lassen, weshalb er beschlossen habe, Jeannette zu töten. Er habe geglaubt, nur so die Beziehung zu seiner Frau retten zu können. Er habe sich dann am Freitag am Main mit Jeannette getroffen und sie dort im Uferbereich ertränkt.
«Auf ein Wort, Herr Winter», sagte die Aksoy und stand auf. Winter nickte und kam mit vor die Tür.
«Er war es nicht», sagte Aksoy, «und es gibt noch eine Menge zu tun. Deshalb schlage ich vor, Sie machen hier alleine weiter, und ich kümmere mich mit Heinrich um die Ermittlungen zum Opfer. Wir haben bisher noch nicht einmal den Namen Jeannette Hunziker überprüft.»
«In Ordnung», stimmte Winter zu. «Aber seien Sie nicht zu vorschnell mit Ihren Schlüssen, Frau Aksoy. Ein gewiefter Täter weiß genau, dass wir etwas hören wollen, was nur der Täter wissen kann. Vielleicht erzählt uns Benedetti absichtlich diesen Stuss von Ertränken, damit wir denken, er habe kein Täterwissen und war es nicht.»
«Oh. Da haben Sie mehr Erfahrung als ich. Soll ich trotzdem gehen?»
«Ja, ja, es gibt wirklich noch genug zu tun.»
Winter kam mit diesem Nino Benedetti nicht zurecht. Das Verhör mutierte mehr und mehr zu einer Farce. Es half auch nicht, dass sich nach einer Stunde mit befriedigter Miene und roter Fliege Erster Kriminalhauptkommissar Fock dazugesellte, der gehört hatte, man habe ein Geständnis. Fock wollte den Erfolg durch Anwesenheit aufs eigene Konto verbuchen, seine tragende Rolle als Ermittlungsleiter demonstrieren.
Am Ende hatte Benedetti alles en détail gestanden: Er habe Jeannette mit
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