Staustufe (German Edition)
zuckte mit den Schultern. «Da wäre ich mir nicht so sicher. Vielleicht wollte sie nur deshalb nicht zum Meldeamt, weil sie da ihren wahren Namen hätte sagen müssen.»
Als Winter am folgenden Morgen um Viertel vor neun das Büro betrat, war die Aksoy schon da. Unheimlich, dieser Ehrgeiz. Woher hatte sie eigentlich den Schlüssel?
«Raten Sie mal, Chef, was Heinrich gestern gefunden hat!», begrüßte sie ihn. Aha, sie hatte in aller Frühe auch schon mit den Kollegen Kontakt aufgenommen. Damit jeder mitbekam, wie überpünktlich sie war.
Winter zog seine Jacke aus. «Ich habe nicht die geringste Ahnung. Aber Sie werden’s mir bestimmt gleich sagen.»
Aksoy winkte mit einer halbdurchsichtigen Tüte der Spurensicherung. «Hier ist ein Flugticket drin, Frankfurt–Los Angeles via Amsterdam, auf den Namen Jeannette Hunziker, für einen Flug Ende dieser Woche.»
Winter staunte. «Wo kommt das denn her?»
«Heinrich hat es in einem Müllcontainer gefunden. Pietsch hat schon auf Fingerabdrücke geprüft, und es sind tatsächlich welche vom Mainmädchen und von Nino Benedetti drauf. Hat Heinrich nicht einen Orden verdient? Und das ist noch nicht mal alles.»
«Moment, Moment. Ich muss erst mal überlegen. Also, der Fund bestätigt, dass Benedetti dem Mainmädchen wirklich ein Flugticket gekauft hat, so wie er gegenüber der Serdaris behauptet hat. Was sagt das nun über eine mögliche Täterschaft?»
«Darüber habe ich auch schon nachgedacht. Genau genommen sagt es gar nichts, außer dass die Geschichte, die uns Frau Serdaris erzählt hat, nicht frei erfunden ist. – Also, zu den anderen Sachen, die Heinrich entdeckt hat: Ein schwarzer Umhang und zwei Wolldecken. Der Umhang könnte Oberbekleidung des Mädchens sein. Die Wolldecken hat Heinrich mitgebracht, weil es ihm seltsam vorkam, dass zwei gute Wolldecken im Müll landen. Vielleicht wurde die Leiche darin transportiert. Die Sachen sind noch in der Kriminaltechnik. Wollen wir einen Blick drauf werfen?»
Natürlich wollte Winter, obwohl es wahrscheinlich nicht sehr sinnvoll war. Sie gingen gemeinsam rüber. In der Technik verbreiteten Neonröhren schlechte Stimmung in dem ohnehin schmucklosen Raum. Der lange Pietsch begrüßte sie. Er hatte, so wie es roch, hier geraucht, obwohl es verboten war. Doch Winter sparte sich eine Bemerkung. Pietsch schob Überstunden am laufenden Band. Wer sich für den Job aufrieb, fand Winter, dem war ein kleines Laster gegönnt.
«Sieht aus wie ein Karnevalskostüm», kommentierte Pietsch, als er behandschuht einen der Funde hochhielt. Es war ein langer, in Falten fallender schwarzer Samtumhang. Bei Winter regte sich eine Erinnerung. Die kleine Tochter der Familie Klinger/Rölsch hatte etwas von «Fledermaus» gefaselt, als er nach dem Mädchen gefragt hatte. Vielleicht hatte sie dieses Vampirkostüm gemeint.
«Ist aus einem Müllcontainer. Nur ein paar Häuser weiter hat Heinrich das Flugticket gefunden», berichtete Pietsch.
«Was ist denn für ein Etikett drin?», fragte Aksoy, trat zwei Schritte nach vorn und inspizierte den Umhang selbst. « Metallic Leather Vintage », las sie vor. «Das ist sicher so eine Goth-Marke. Passt alles haargenau zu der Beschreibung des Mädchens, die uns die Serdaris gegeben hat.»
Winter überkam ein leichtes Schaudern. Gothic-Zeugs. Darauf stand seine Tochter auch. Ständig wurde er in dieser Ermittlung an Sara erinnert. Hatte die Serdaris gestern nicht sogar erzählt, Jeannette hätte sich laut ihrem Freund oft an der Konstablerwache aufgehalten? Genau wie Sara. Du lieber Gott. Am Ende kannten sich die beiden. Er versuchte seine Beklemmung zu verbergen, während Pietsch den letzten Fund des fleißigen Heinrich zeigte: zwei Wolldecken mit auffälligem, gezacktem Muster im Südamerika-Folklore-Stil. Sie hatten obenauf in einem Müllcontainer gelegen, ein gutes Stück entfernt von den anderen beiden Funden.
«Das gibt’s doch nicht!», rief die Aksoy angesichts der Wolldecken. «Ich könnte schwören, ich hab diese Decken schon mal gesehen!»
«Das müssen ja nicht dieselben gewesen sein», schlug Winter vor, «die Dinger kann man wahrscheinlich im Kaufhof oder bei Strauss oder wie das heißt, kaufen.»
«Aber ich denke, ich habe die in den letzten Tagen irgendwo … wo war das nur …»
Winter notierte sich mental, dass er sich die Vernehmungsprotokolle nochmals ansehen musste. Vielleicht würde im Lichte des jetzigen Ermittlungsstandes einiges klarer.
Doch dazu kam er nicht.
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