Staustufe (German Edition)
entgegen. Für Anfang November war es warm. Auf den Stufen zu dem großen gepflasterten Podest des Platzes standen und saßen in Grüppchen Jugendliche herum, genau wie Hilal Aksoy gehofft hatte.
Sie nahm sich erst einmal den Mann vom Obststand vor, der ihr drei Kilo Orangen zum halben Preis anbot, wie immer behauptete, nichts zu wissen, aber es gerne zuließ, dass sie ein Plakat an einen seiner Pfosten pinnte. Das war ein ausgezeichneter Platz, auch für den Obsthändler. Ein interessantes Polizeiplakat lockte Kunden an.
Unter den Jugendlichen, die in der Sonne auf der Westseite des Podests herumstanden, war eine Gruppe von der schwarzen Fraktion. Es war ein eher jüngeres Phänomen, dass die sich hier trafen. Vor der neuen Stadtbücherei in der Hasengasse hatte Aksoy diese Clique auch schon gesehen. Ihrer Einschätzung nach waren die meisten dieser Kids Gymnasiasten. Das Mädchen aus der Bahn, sie hatte die schwarz gefärbte Mähne zu einem Pferdeschwanz ganz oben auf dem Kopf gebunden, war auch dabei.
«Hallo», sagte Aksoy und ging auf die Gruppe zu. «Ich bin Kriminalkommissarin Hilal Aksoy. Wir fahnden nach einer vermissten jungen Frau, um die wir uns große Sorgen machen. Wir beide kennen uns ja schon» – das war an das Pferdeschwanz-Mädchen gerichtet –, «aber den andern würde ich auch gerne noch das Bild zeigen. Die junge Frau ist etwa sechzehn bis achtzehn Jahre alt, sehr schlank, nennt sich Jeannette, aber vielleicht auch Jessica. Mittelblonde, lange, glatte Haare. Meist blass geschminkt, die Augen sehr dunkel. Sehen Sie, dieser Samtumhang hier ist schon sehr auffällig. Den trug sie oft. Kann sich jemand von Ihnen an das Mädchen erinnern?»
«Ist das nicht die mit dem Hau?», sagte ein bleicher Jüngling mit rostroten Haaren bis zur Hüfte, der Aksoy um zwei Köpfe überragte.
«Ja, ey, das ist die», sekundierte der zweite Junge der Gruppe, kopfnah rasiert und mit zahllosen Piercings verschönt. «Die immer im Hotel geschlafen hat. Und ihr Lieblingshotel war das Ritz.» Die Gruppe brach in grölendes Gelächter aus. Aksoy lächelte unwillkürlich, dann fragte sie, ob ihr jemand den Witz erklären könne.
«Weil die sich geritzt hat», erläuterte der Geschorene. «Also, in die Arme mit Rasierklingen. Machen sonst mehr die Emos. Aber die hier war echt nicht normal. Stimmt doch, oder?»
Seine Freunde nickten zustimmend.
«Ich glaube, das ist tatsächlich die junge Frau, über die wir Informationen suchen», sagte Aksoy. «Wir haben ebenfalls den Verdacht, dass sie psychische Probleme hat. Was wissen Sie noch über sie, was hat sie von sich erzählt?»
«Nicht viel, eigentlich», sagte wieder der Geschorene, der die Sprecherfunktion übernommen hatte. «Düstere Andeutungen, tragische Homestory. Aber Miss Ritz hatte nicht viel mit uns zu tun. Stand gern dahinten bei den Klamottengeschäften rum und hat Leute angesprochen. Die war immer auf der Suche nach einem Alten, der sie mit nach Hause nimmt oder ihr das Hotel bezahlt. Irgendwie fand sich auch immer ein Doofer.»
«Oh, Scheiße», sagte eines der Mädchen. «Die hat bestimmt einer umgebracht. Einer von den Freiern, die sie ausgehalten haben. Da ist sie bestimmt mal an den Falschen geraten.»
«Wann haben Sie die junge Frau denn zuletzt gesehen?»
Die Gruppe sah sich untereinander an.
«Also, ich hab die lange nicht gesehen», behauptete der lange Rotmähnige.
«Nee», bestätigte der Kurzgeschorene, «ich glaub auch, das muss Wochen her sein. Oder Monate. Da war es noch warm.»
«Weiß jemand, wie sie mit Nachnamen hieß?»
Schulterzucken.
Aksoy verteilte ihre Karte, bat um einen Anruf, wenn einem der jungen Leute noch etwas einfalle, verabschiedete sich und machte sich auf zu einer Gruppe orientalisch aussehender junger Männer zehn Meter weiter. Einen von denen kannte sie als Dealer.
Wie erwartet waren die Typen zwar zu ein paar Scherzen mit ihr bereit, aber eine Auskunft bekam sie nicht. Niemand hatte das Mädchen je gesehen. Aksoy sah sich um, wohin sie sich als Nächstes wenden könne, da sprach jemand sie von der Seite an. «Entschuldigung?»
Neben ihr stand das Goth-Mädchen mit dem Pferdeschwanz. Aksoy fiel jetzt erst auf, wie jung sie war, höchstens sechzehn, mit roten Wangen unter der Schminke und einem kindlichen, etwas pausbäckigen Gesicht. Der schwarze Mantel war bodenlang.
«Mir ist noch was eingefallen.»
«Oh. Prima. Was denn?»
«Also, ein Freund von mir kennt die etwas näher. Glaube ich jedenfalls. Sie
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