Staustufe (German Edition)
geholt. Aber die westliche Zivilisation hatte glücklicherweise das Nasenspray erfunden. Und die selbständige, abwechslungsreiche Arbeitsweise bei der Mordkommission motivierte Heinrich total. Gestern hatte er ganz allein die eingehenden Hinweise bearbeitet. Erstaunlich viele Leute hatten bereits auf die ausgehängten Fahndungszettel reagiert. Vor allem auf die am Südbahnhof. Das Mädchen war eine schillernde Gestalt gewesen und vielen Leuten ins Auge gefallen. Die meisten konnten allerdings nichts weiter sagen, als dass man sie in ihrem «Vampirumhang» öfter am Südbahnhof hatte sitzen sehen und dass sie meist ganz allein gewesen war. Sie hielt sich auf den Bänken am Diesterwegplatz auf oder in der B-Ebene an den U-Bahn-Gleisen, hatte häufig Vorübergehenden zugelächelt.
Ein Hinweis, per E-Mail eingetroffen, war interessanter: Hallöchen, wir denken, wir kennen die junge Dame. Sie hat eine Weile bei uns gewohnt. Wir arbeiten hier alle im Schichtdienst. Wenn Sie mehr wissen wollen, kommen Sie doch morgen früh um neun vorbei. Bitte keine Vorladung, wir wissen, dass wir ohne gerichtliche Anordnung sowieso nicht Folge leisten müssen.
Heinrich fand das sehr seltsam formuliert. Was waren denn das für Leute, dass die sich so gut mit ihren Rechten auskannten?
Kollegin Aksoy hatte gestern vorgeschlagen, Heinrich solle heute früh statt ins Büro gleich dahin fahren und die Leute befragen. Aksoy gab sich in Winters Abwesenheit gern als Entscheiderin. Wohl weil sie ein paar Jahre älter war als Heinrich und fest bei den Kriminalern. Zwar war Heinrich der Ansicht, dass man beim Kriminaldauerdienst nicht viel anderes machte als er auf der Wache auch. Aber bitte, wenn die Aksoy ihn selbständig wichtige Befragungen machen ließ, dann sollten ihm ihre Chefallüren recht sein.
Die Absender der E-Mail – die mit P. Wuttke und Freunde unterzeichnet war – wohnten quasi in Sichtweite des Südbahnhofs. Das Haus war eins der schönsten hier: gutbürgerliche Gründerzeit, mit zartrosa Anstrich und weißer Stuckatur. Heinrich war beglückt, dass es an dieser Ecke beinahe noch so aussah wie zu seiner Schulzeit. Er war durch die Textorstraße angefahren und bass erstaunt, wie viele große, postmoderne Neubauklötze dort in den letzten paar Jahren auf die wenigen Freiflächen gestellt worden waren, alle mit bodenlangen Fenstern, aber gänzlich schmucklosen, eintönigen Fassaden. Dieses In-Viertel bekam allmählich eine beklemmende Bebauungsdichte.
P. Wuttke wohnte laut Klingel mit drei anderen Personen zusammen. Dass es sich um eine WG handelte, hatte Heinrich sich fast schon gedacht. Außer Puste oben im vierten Stock angekommen, wusste er sofort, was ihn erwartete. «Huhu, hier ist es», flötete der kokett in der Holztür lehnende junge Mann, klein, mit einem glatten, mädchenhaften Gesicht, von Natur aus schmächtig, aber von Tausenden Workouts gestählt. «Ich bin Peer Wuttke. Sie sind Kommissar Heinrich? Immer nur rein in die gute Stube.» Heinrich folgte ihm in ein großes Esszimmer, wo zwei weitere junge Männer um die dreißig an einem liebevoll gedeckten Tisch beim Frühstück saßen. «Jungs, hier ist er, unser Kriminalkommissar», stellte Wuttke ihn vor. Heinrich war natürlich Polizei- und nicht Kriminalkommissar. Aber er ließ es so stehen und schüttelte den jungen Männern die Hände.
«Setzen Sie sich doch», forderte Wuttke ihn auf. Tatsächlich war auch für Heinrich gedeckt. Etwas verunsichert nahm er Platz.
«Damit keine Missverständnisse aufkommen», redete Wuttke weiter, «wir sind hier eine Schwuletten-WG. Arbeiten alle am Flughafen. So viel zum Hintergrund. Wer uns die Jacqueline angeschleppt hat, ist unser guter Daniel hier.»
«Jacqueline?», fragte Heinrich.
«Ja. Oh. Ist das etwa gar nicht die, nach der Sie suchen?»
Heinrich kapierte es in dieser Sekunde: Jacqueline, Jeannette – alles mit J. Alles Ersatznamen für Jessica.
«Doch, das ist wahrscheinlich schon die Richtige. Sie nennt sich unterschiedlich. Apropos, hat sie einem von Ihnen einen Nachnamen genannt? Oder haben Sie Ausweisdokumente von ihr gesehen?»
Der, den Wuttke Daniel genannt hatte, schluckte rasch seinen Bissen Brötchen herunter. Er war groß und hatte durchscheinend helle Haut. Seine weißblonden Haare lichteten sich schon und waren auf einen Millimeter Länge rasiert. «Also», begann er, «ich hab sie natürlich gefragt, wie sie mit Nachnamen heißt. Aber ehrlich gesagt, geglaubt habe ich ihr nicht. Sie hat
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